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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 20.1926

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https://doi.org/10.11588/diglit.14166#0081
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BESPRECHUNGEN.

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deine eigne Selbsterfüllung aufgenommen werde!« Oder kürzer: Introzipiere! Darauf-
hin werden dann speziellere Inhaltsnormen und weiter Idealnormen, die das »Wer-
den-Sollende« zum Objekt haben, abgeleitet. Hinsichtlich des Wertrangs werden eine
Anzahl Prinzipien aufgestellt. Das Buch klingt aus in einem Kapitel, das die Be-
stimmung des Ich in seiner Besonderheit behandelt und sich in dem Imperativ
»verwirkliche deine Berufung«! konzentriert. Berufung ist dabei die Soll-Struktur
des Ich, wie sie heranwächst aus der Ist-Struktur. »Erst wenn man sein Können
will, dann kann man, was man soll«. Die ethische Rangordnung des Menschen
hängt davon ab, ob ein Mensch sein Leben nach seiner Berufung gestaltet.

Ich habe den Inhalt dieses reichen Buches kurz skizziert, in der Hoffnung, daß
die erstaunlich klare Architektonik wenigstens ungefähr erkennbar wird. W. Stern
gehört zweifellos zu den klarsten Denkern, die wir haben, und zugleich zu den
besten Systematikern, wobei ihm seine ungewöhnliche Fähigkeit im Prägen ge-
schickter und schon in der Wertform oft trefflich kontrastierender Begriffe sehr zu
statten kommt. Natürlich entgeht er nicht der Gefahr, zuweilen sehr bekannten Tat-
sachen durch diese Terminologie nur ein neues Gewand umzuhängen, aber das ist
nicht das Wesentliche. Das scheint mir speziell für diesen Band in der oft ver-
blüffend durchsichtigen Weise zu liegen, wie sich hier verwickelte Probleme gliedern,
zugleich aber auch in der erstaunlichen Konsequenz, wie der Grundgedanke des
Systems durch alle Lebensgebiete durchgehalten wird. Über metaphysische Grund-
annahmen wird man stets streiten können. Der Referent bekennt gern, daß er sich
persönlich Sterns Lehre sehr verwandt fühlt, obwohl man auch bei anderer Grund-
position Sterns Werk die Hochachtung nicht versagen wird. Historisch liegt es auf
der Linie Aristoteles, Leibniz, Ed. v. Hartmann und hat auch manche Beziehungen
zu der mehr irrationalistisch orientierten Lebensphilosophie der Gegenwart, obwohl
Stern selbst nur vereinzelt diese Zusammenhänge berührt. Aber ob man in der
Gesamtheit zu der metaphysischen Haltung dieses Systems ablehnend oder zu-
stimmend steht: es ist nicht zu verkennen, daß hier ein philosophisches System von
außerordentlicher Klarheit und Geschlossenheit zum Abschluß gelangt ist, dessen
reiche Anregungen für die Einzelforschung sich hoffentlich bald auswirken werden.

Berlin-Halensee.

Richard Müller-Freienfels.

Paul Haeberlin, Der Geist und die Triebe. Eine Elementarpsychologie.
Basel, Kober, C. F. Spittlers Nachfolger, 1924. VIII u. 506 S.

Das Bestreben, die Psychologie zu einer von der Philosophie losgelösten empi-
rischen Wissenschaft zu machen, hatte zunächst die Folge, alles Heil nur in der
Sammlung von Tatsachen und ihrer genauen Beschreibung zu sehen und darüber
materiell sowohl den inneren Zusammenhang der psychischen Erscheinungen zu
vernachlässigen als auch die Verbindung mit den anderen Wissenschaften aus dem
Auge zu verlieren. In der Psychologie lebte keine philosophische Idee mehr, son-
dern es herrschte ein Positivismus, der jede Wissenschaftsgestaltung von einer nur
philosophisch gewinnbaren Idee her abwies. Wie in allen anderen Wissenschaften,
so hat sich in den beiden letzten Jahrzehnten auch in der Psychologie in ständig
steigendem Maß hierin eine Änderung vollzogen durch die Einwirkung einer syste-
matisch gerichteten und metaphysisch bestimmten Philosophie. Das Bemerkenswerte
ist nun, daß die philosophische Idee nicht mehr rein spekulativ bleibt, sondern in
einen engen Zusammenhang mit der empirischen Methode tritt, die für die Psycho-
logie, sofern sie strenge Wissenschaft sein will, unaufgebbar ist. Wie diese Verbin-
 
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