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1895.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 1.
30
logische Tiefe einen inneren Werth zu retten
sucht. Man macht grofse Worte über diese
moderne Richtung und hat ihre Geburt und
ihr Wachsthum mit Trompetenschmettern be-
grüfst. Das Publikum steht ihr bis zur Stunde
skeptisch gegenüber und der gemeine Menschen-
verstand wird jetzt und künftig sein Urtheil da-
für abgeben: allen Respekt vor dieser genauen
Belauschung, Behorchung und Wiedergabe des
Menschenlebens; aber sollte denn wirklich voll-
kommener Verzicht auf geistigen Inhalt und
Gehalt, auf Geist, Poesie, Humor die condicio
sine qua non einer vollkommenen Wiedergabe
des Menschenlebens sein ? steckt nicht ein klein
wenig Geist und Vernunft schliefelich in jedem
Menschen, auch dem der untersten Stände, et-
was Sinn und Poesie schliefslich im Volksleben,
wo man es fafst? und ist etwas mehr klare
Zeichnung und künstlerische Umformung hier
absolut vom Uebel? Selbst von einer Seite,
welche für die moderne Richtung enthusiastisch
schwärmt, mufs man doch zugeben: „Als drittes
Axiom (nach der Forderung des malerischen
und des höheren, Stimmung erzeugenden Ele-
mentes") darf nunmehr wieder auch der geistige
Gehalt in sein Recht treten. Er soll keines-
wegs stets gefordert werden, er kann und darf
sehr wohl auch dem vollendetsten Kunstwerk
fehlen (?), — aber er ist an sich auch kein ge-
fahrliches Accidenz, das der ächte Künstler,
wie uns unsere modernsten Genremaler glauben
machen wollen, möglichst zu vermeiden hat.
Man kann „malerisch denken" und gleichzeitig
„Gedanken verkörpern".9) Und Volkelt stellt
mit Recht die Forderung, dafs die Kunst auch
das Gleichgültige, Triviale, Kümmerliche, durch
Zufall Zerstückelte und Entstellte, das Absonder-
liche, Launenhafte im wirklichen Leben zur Dar-
stellung bringe, nachdem sie es auf die Stufe
des Menschlich-Bedeutungsvollen erhoben.10) Das
kann aber nicht gesagt werden von einer grofsen
Zahl moderner Genrebilder, deren Meister, über-
eifrige Nachtreter der obengenannten Trias, ledig-
lich nur darauf ausgehen, das Menschen- und
Volksleben zu veröden und zu verblöden, zu ver-
dreckeln, zu verekeln und zu verleiden: wie z.B.
G raf Leopold Kalckreuth in seiner „Sommerzeit",
Becker-Gründahl in seinem „blinden Mann", der
n) »Kunst-Salon« von Anisler und Ruthardt
Berlin 1893, S. 235.
10) «Aesthelische Zeitfragen« S. 157.
den Illusionsreiz zum Brechreiz steigert, Linda
Göhl (Interieur), Ghr. Landenberger in seinem
„badenden Knaben", der gar keine Glieder
mehr hat, sondern nur aus gelben, grünen und
orangenen Flecken zusammengesetzt ist, und
viele andere. Hervorragende Leistungen aber
sind der „Geizhals" von Richard Nitsch, „die
Dorfältesten" von Otto Heichert, „die Testa-
mentseröffnung" von Josef Muntsch, „der Be-
such beim Verurtheilten" von P. J. von der
Ouderaa, „Hoher Besuch" (im Atelier) von F.
Steinmetz, „die Sonntagsruhe" von K. Hartmann,
„Hauskapelle" von G. Jakobides, „ein genüg-
samer Weltbürger" (ein mit einem alten Schuh
spielendes Kind) von L. Knaus, „Verstofsen'«
von A. Dieffenbacher, „die Gharakterköpfe" von
E. Harburger, „Pferdezähmung" von B. Galofre,
„das Puppentheater" von W. Geats, — hervor-
ragend, weil die moderne Wirklichkeitsauffassung
sich hier noch einen Funken von Geist und Gefühl,
von Poesie und Humor und noch ein gut Stück
solider alter Technik und Zeichnung gewahrt hat.
Die Historien- und Schlachtenmalerei,
die Malerei des grofsen, monumentalen Stiles
ist zu Grabe gegangen. Was in den letzten
Ausstellungen in diese Kategorie gehört, kann
an den Fingern aufgezählt werden: E. Carpen-
tier's Schlachtenbild: „1793 in der Bretagne",
keineswegs in allem gelungen, Peter Janssen's
Kolossalbild: „der Mönch Walther Dodde und
die Bergischen Bauern in der Schlacht bei Wor-
ringen 1288", von kraftvollem Leben strotzend,
A. Sochaczewski's „Abschied der Verbannten
am Grenzstein von Sibirien", Lischka's „Michel-
angelo's Traum", des Villegas „Triumph des
Dogen Foskari" und „Tod des Matadors", Ben-
liure's „Einzug der Stierfechter". Man bedauert
den Untergang der historischen Malerei nicht;
man freut sich darüber, dafs die moderne Malerei
so ganz im frisch pulsirenden Leben der Gegen-
wart aufgeht; aber eine Kunst, welche verlernt hat,
sich auf dem Boden vergangener Jahrhunderte
zu bewegen und die grofsen Momente der Welt-
geschichte darzustellen, ruft doch Zweifel wach
an der Höhe und Richtigkeit ihres Standpunktes,
an der Weite ihres Gesichtskreises und an der
Kraft ihres Könnens, vollends wenn sie zeigt, dafs
sie über der Beschäftigung mit den sozialen
Problemen der Gegenwart selbst zur Sozial-
demokratin geworden. — (Forts, folgt.)
Freiburg i. B. Paul Keppler.
1895.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 1.
30
logische Tiefe einen inneren Werth zu retten
sucht. Man macht grofse Worte über diese
moderne Richtung und hat ihre Geburt und
ihr Wachsthum mit Trompetenschmettern be-
grüfst. Das Publikum steht ihr bis zur Stunde
skeptisch gegenüber und der gemeine Menschen-
verstand wird jetzt und künftig sein Urtheil da-
für abgeben: allen Respekt vor dieser genauen
Belauschung, Behorchung und Wiedergabe des
Menschenlebens; aber sollte denn wirklich voll-
kommener Verzicht auf geistigen Inhalt und
Gehalt, auf Geist, Poesie, Humor die condicio
sine qua non einer vollkommenen Wiedergabe
des Menschenlebens sein ? steckt nicht ein klein
wenig Geist und Vernunft schliefelich in jedem
Menschen, auch dem der untersten Stände, et-
was Sinn und Poesie schliefslich im Volksleben,
wo man es fafst? und ist etwas mehr klare
Zeichnung und künstlerische Umformung hier
absolut vom Uebel? Selbst von einer Seite,
welche für die moderne Richtung enthusiastisch
schwärmt, mufs man doch zugeben: „Als drittes
Axiom (nach der Forderung des malerischen
und des höheren, Stimmung erzeugenden Ele-
mentes") darf nunmehr wieder auch der geistige
Gehalt in sein Recht treten. Er soll keines-
wegs stets gefordert werden, er kann und darf
sehr wohl auch dem vollendetsten Kunstwerk
fehlen (?), — aber er ist an sich auch kein ge-
fahrliches Accidenz, das der ächte Künstler,
wie uns unsere modernsten Genremaler glauben
machen wollen, möglichst zu vermeiden hat.
Man kann „malerisch denken" und gleichzeitig
„Gedanken verkörpern".9) Und Volkelt stellt
mit Recht die Forderung, dafs die Kunst auch
das Gleichgültige, Triviale, Kümmerliche, durch
Zufall Zerstückelte und Entstellte, das Absonder-
liche, Launenhafte im wirklichen Leben zur Dar-
stellung bringe, nachdem sie es auf die Stufe
des Menschlich-Bedeutungsvollen erhoben.10) Das
kann aber nicht gesagt werden von einer grofsen
Zahl moderner Genrebilder, deren Meister, über-
eifrige Nachtreter der obengenannten Trias, ledig-
lich nur darauf ausgehen, das Menschen- und
Volksleben zu veröden und zu verblöden, zu ver-
dreckeln, zu verekeln und zu verleiden: wie z.B.
G raf Leopold Kalckreuth in seiner „Sommerzeit",
Becker-Gründahl in seinem „blinden Mann", der
n) »Kunst-Salon« von Anisler und Ruthardt
Berlin 1893, S. 235.
10) «Aesthelische Zeitfragen« S. 157.
den Illusionsreiz zum Brechreiz steigert, Linda
Göhl (Interieur), Ghr. Landenberger in seinem
„badenden Knaben", der gar keine Glieder
mehr hat, sondern nur aus gelben, grünen und
orangenen Flecken zusammengesetzt ist, und
viele andere. Hervorragende Leistungen aber
sind der „Geizhals" von Richard Nitsch, „die
Dorfältesten" von Otto Heichert, „die Testa-
mentseröffnung" von Josef Muntsch, „der Be-
such beim Verurtheilten" von P. J. von der
Ouderaa, „Hoher Besuch" (im Atelier) von F.
Steinmetz, „die Sonntagsruhe" von K. Hartmann,
„Hauskapelle" von G. Jakobides, „ein genüg-
samer Weltbürger" (ein mit einem alten Schuh
spielendes Kind) von L. Knaus, „Verstofsen'«
von A. Dieffenbacher, „die Gharakterköpfe" von
E. Harburger, „Pferdezähmung" von B. Galofre,
„das Puppentheater" von W. Geats, — hervor-
ragend, weil die moderne Wirklichkeitsauffassung
sich hier noch einen Funken von Geist und Gefühl,
von Poesie und Humor und noch ein gut Stück
solider alter Technik und Zeichnung gewahrt hat.
Die Historien- und Schlachtenmalerei,
die Malerei des grofsen, monumentalen Stiles
ist zu Grabe gegangen. Was in den letzten
Ausstellungen in diese Kategorie gehört, kann
an den Fingern aufgezählt werden: E. Carpen-
tier's Schlachtenbild: „1793 in der Bretagne",
keineswegs in allem gelungen, Peter Janssen's
Kolossalbild: „der Mönch Walther Dodde und
die Bergischen Bauern in der Schlacht bei Wor-
ringen 1288", von kraftvollem Leben strotzend,
A. Sochaczewski's „Abschied der Verbannten
am Grenzstein von Sibirien", Lischka's „Michel-
angelo's Traum", des Villegas „Triumph des
Dogen Foskari" und „Tod des Matadors", Ben-
liure's „Einzug der Stierfechter". Man bedauert
den Untergang der historischen Malerei nicht;
man freut sich darüber, dafs die moderne Malerei
so ganz im frisch pulsirenden Leben der Gegen-
wart aufgeht; aber eine Kunst, welche verlernt hat,
sich auf dem Boden vergangener Jahrhunderte
zu bewegen und die grofsen Momente der Welt-
geschichte darzustellen, ruft doch Zweifel wach
an der Höhe und Richtigkeit ihres Standpunktes,
an der Weite ihres Gesichtskreises und an der
Kraft ihres Könnens, vollends wenn sie zeigt, dafs
sie über der Beschäftigung mit den sozialen
Problemen der Gegenwart selbst zur Sozial-
demokratin geworden. — (Forts, folgt.)
Freiburg i. B. Paul Keppler.