123
1895. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 4.
124
Geburt Mariens über die gewöhnlichen Kind-
bettszenen in die Sphären des wahrhaft Reli-
giösen emporzuheben. Wie herzerquickend
und vom süfsen Duft freudigen Opferns um-
wogt ist die Gestalt und das Antlitz des Kindes
Maria bei ihrer Darstellung im Tempel. Wie
lieblich ernst die Feier der Verlobung. Wie
wunderbar ehrfürchtig der Blick des Engels
auf die Jungfrau bei der Verkündigung. Wie
verständnifsinmg und himmlischer Freude voll
die Augenzwiesprache der beiden heiligen
Frauen bei der Heimsuchung. Wie ergreifend
und wie reich an Glaubens- und Andachtsge-
halt das Weihnachtsbild. Wie grofsartig bei aller
Schlichtheit die Huldigung der Könige. Was
für unergründliche Geheimnisse fassen sich zu-
sammen in den Gesichtern Simeons, der Mutter
und des Kindes bei der Darstellung im Tempel.
Kann die Flucht nach Aegypten rührender er-
zählt werden, als diese vier Gestalten sie er-
zählen, der sorgenvoll aber gottergeben voran-
schreitende Joseph, die auf dem Lastthier
sitzende Mutter, welche mit sinnigem sorgsamem
Auge den Schlaf des unbeschreiblich lieblichen
Kindes bewacht, der Geleitsmann aus der
Engelwelt, welcher hintendreinschreitet und mit
einem Wink seiner Hand das Götzenbild von
seinem stolzen Piedestal wirft? Auf dem Bild
Jesus im Tempel weifs man nicht was mehr
zu bewundern ist, der den Lehrberuf anti-
zipirende Knabe, oder die Gruppe der Schrift-
gelehrten, oder der staunende, fragende, ahnende
Blick der Mutter und des Nährvaters. In den
Passionsbildern steigert sich die lyrische Kraft
in's Dramatische; die Kreuzabnahme athmet
Fiesole's Geist. Im Pfingstbild ist Antlitz für
Antlitz ganz durchflammt vom Feuer des
hl. Geistes; der Tod Mariens ist vielleicht
noch nie mit solch erhabener Würde geschildert
worden, und das Schlufsbild der Krönung
Mariens ist ein aus Majestät und Anmuth zu-
sammengedichteter Jubelhymnus, der zu den
höchsten Triumphen religiöser Malerei zählt.
Wer für solche geistige und ideale Schön-
heiten kein Auge mehr hat und mit dem Ver-
dikt: „steif und hart" sich von diesen Tafeln
abwendet, der stellt seinem eigenen Geist und
Herzen ein trauriges Armuthszeugnifs aus. Wir
fordern für diese ernsteste Richtung religiöser
Malerei mit allem Nachdruck mindestens das-
selbe Recht und dieselbe Freiheit, welche
heutzutage die freiesten Richtungen für sich
verlangen. Wir sehen das Bestehen und Blühen
dieser Malerei als einen wahren Segen für die
Zukunft unserer religiösen Kunst an; sie ist
das pochende, mahnende, warnende Gewissen,
von der Vorsehung unserer Kunst eingesetzt
zu einer Zeit, wo sie wahrlich eines Führers
und Mentors im höchsten Grade bedarf.1)
Freiburg i. B. Paul Keppler.
') [Obgleich der Herausgeber die in den letzten
5 Spalten zum Ausdrucke gebrachten Anschauungen
nicht in alleweg theilt, hat er doch geglaubt, an den
geistvollen Ausfüllrungen kein Wort ändern zu sollen.]
Bücherschau.
Hie internationale chalkogr aphisc he Gesell-
schaft, welche für die Jahre 1803/94 ihren Mit-
gliedern die Blätter des Meislers des Amsterdamer
Kabinets mit Text von MaxLehrs gebracht hatte,
gibt jetzt noch nachträglich für das Jahr 1894
elf Holzschnitte des anonymen Meisters I. B. mit
dem Vogel, nebst einem erläuternden Vorwort von
Fr. Lippmann und für dasjahr 1895 eine Haupt-
gabe: »Die sieben Planeten« von Fr. Lippmann,
Man hielt früher den anonymen Meister I. B. mit
dem Vogel für einen Künstler aus Modena unter dem
Namen Giovanni Battista del Porto. Nach den Unter-
suchungen l.ippmann's ist diese Vermuthung nicht
begründet, ebenso ist die Periode seines Schaffens
unsicher, doch läfst sie sich einigermafsen erschliefsen.
Zunächst aus einem Kupferstiche, der ein zusammen-
gewachsenes Zwillingspaar und eine Katze mit drei
Köpfen darstellt, die der lateinischen Unterschrift des
Stiches zufolge 1503 in Rom geboren worden sind.
Man darf annehmen, dafs die Abbildungen ziemlich
gleichzeitig mit dem Geschehnifs verbreitet wurden,
denn ihre Verfertiger haben sich sicherlich beeilt,
j die merkwürdige Neuigkeit rasch auf den Markt zu
bringen. Die Abbildungen derartiger Naturspiele waren
damals beliebt; ein bekanntes Beispiel ist Dürer's mon-
ströses Schwein. Mit dem Datum 1503 stimmen
sowohl der allgemeine Charakter des Meisters I. B.,
als auch seine Verwendung Dürer'scher Hintergründe.
Man kennt zehn als Einzelblätter gedruckte Blätter
mit dem Zeichen des Anonymus; ein elftes, zwar
unbezeichnet, darf ihm mit Sicherheit zugeschrieben
werden. Die Seltenheit der Holzschnitte und der
Umstand, dafs sie in keiner öffentlichen oder privaten
Sammlung vollzählig zu linden sind, rechtfertigt die
Publikation derselben. Sie sind an und für sich be-
deutend, iheilweise auch schön und gewinnen noch
1895. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 4.
124
Geburt Mariens über die gewöhnlichen Kind-
bettszenen in die Sphären des wahrhaft Reli-
giösen emporzuheben. Wie herzerquickend
und vom süfsen Duft freudigen Opferns um-
wogt ist die Gestalt und das Antlitz des Kindes
Maria bei ihrer Darstellung im Tempel. Wie
lieblich ernst die Feier der Verlobung. Wie
wunderbar ehrfürchtig der Blick des Engels
auf die Jungfrau bei der Verkündigung. Wie
verständnifsinmg und himmlischer Freude voll
die Augenzwiesprache der beiden heiligen
Frauen bei der Heimsuchung. Wie ergreifend
und wie reich an Glaubens- und Andachtsge-
halt das Weihnachtsbild. Wie grofsartig bei aller
Schlichtheit die Huldigung der Könige. Was
für unergründliche Geheimnisse fassen sich zu-
sammen in den Gesichtern Simeons, der Mutter
und des Kindes bei der Darstellung im Tempel.
Kann die Flucht nach Aegypten rührender er-
zählt werden, als diese vier Gestalten sie er-
zählen, der sorgenvoll aber gottergeben voran-
schreitende Joseph, die auf dem Lastthier
sitzende Mutter, welche mit sinnigem sorgsamem
Auge den Schlaf des unbeschreiblich lieblichen
Kindes bewacht, der Geleitsmann aus der
Engelwelt, welcher hintendreinschreitet und mit
einem Wink seiner Hand das Götzenbild von
seinem stolzen Piedestal wirft? Auf dem Bild
Jesus im Tempel weifs man nicht was mehr
zu bewundern ist, der den Lehrberuf anti-
zipirende Knabe, oder die Gruppe der Schrift-
gelehrten, oder der staunende, fragende, ahnende
Blick der Mutter und des Nährvaters. In den
Passionsbildern steigert sich die lyrische Kraft
in's Dramatische; die Kreuzabnahme athmet
Fiesole's Geist. Im Pfingstbild ist Antlitz für
Antlitz ganz durchflammt vom Feuer des
hl. Geistes; der Tod Mariens ist vielleicht
noch nie mit solch erhabener Würde geschildert
worden, und das Schlufsbild der Krönung
Mariens ist ein aus Majestät und Anmuth zu-
sammengedichteter Jubelhymnus, der zu den
höchsten Triumphen religiöser Malerei zählt.
Wer für solche geistige und ideale Schön-
heiten kein Auge mehr hat und mit dem Ver-
dikt: „steif und hart" sich von diesen Tafeln
abwendet, der stellt seinem eigenen Geist und
Herzen ein trauriges Armuthszeugnifs aus. Wir
fordern für diese ernsteste Richtung religiöser
Malerei mit allem Nachdruck mindestens das-
selbe Recht und dieselbe Freiheit, welche
heutzutage die freiesten Richtungen für sich
verlangen. Wir sehen das Bestehen und Blühen
dieser Malerei als einen wahren Segen für die
Zukunft unserer religiösen Kunst an; sie ist
das pochende, mahnende, warnende Gewissen,
von der Vorsehung unserer Kunst eingesetzt
zu einer Zeit, wo sie wahrlich eines Führers
und Mentors im höchsten Grade bedarf.1)
Freiburg i. B. Paul Keppler.
') [Obgleich der Herausgeber die in den letzten
5 Spalten zum Ausdrucke gebrachten Anschauungen
nicht in alleweg theilt, hat er doch geglaubt, an den
geistvollen Ausfüllrungen kein Wort ändern zu sollen.]
Bücherschau.
Hie internationale chalkogr aphisc he Gesell-
schaft, welche für die Jahre 1803/94 ihren Mit-
gliedern die Blätter des Meislers des Amsterdamer
Kabinets mit Text von MaxLehrs gebracht hatte,
gibt jetzt noch nachträglich für das Jahr 1894
elf Holzschnitte des anonymen Meisters I. B. mit
dem Vogel, nebst einem erläuternden Vorwort von
Fr. Lippmann und für dasjahr 1895 eine Haupt-
gabe: »Die sieben Planeten« von Fr. Lippmann,
Man hielt früher den anonymen Meister I. B. mit
dem Vogel für einen Künstler aus Modena unter dem
Namen Giovanni Battista del Porto. Nach den Unter-
suchungen l.ippmann's ist diese Vermuthung nicht
begründet, ebenso ist die Periode seines Schaffens
unsicher, doch läfst sie sich einigermafsen erschliefsen.
Zunächst aus einem Kupferstiche, der ein zusammen-
gewachsenes Zwillingspaar und eine Katze mit drei
Köpfen darstellt, die der lateinischen Unterschrift des
Stiches zufolge 1503 in Rom geboren worden sind.
Man darf annehmen, dafs die Abbildungen ziemlich
gleichzeitig mit dem Geschehnifs verbreitet wurden,
denn ihre Verfertiger haben sich sicherlich beeilt,
j die merkwürdige Neuigkeit rasch auf den Markt zu
bringen. Die Abbildungen derartiger Naturspiele waren
damals beliebt; ein bekanntes Beispiel ist Dürer's mon-
ströses Schwein. Mit dem Datum 1503 stimmen
sowohl der allgemeine Charakter des Meisters I. B.,
als auch seine Verwendung Dürer'scher Hintergründe.
Man kennt zehn als Einzelblätter gedruckte Blätter
mit dem Zeichen des Anonymus; ein elftes, zwar
unbezeichnet, darf ihm mit Sicherheit zugeschrieben
werden. Die Seltenheit der Holzschnitte und der
Umstand, dafs sie in keiner öffentlichen oder privaten
Sammlung vollzählig zu linden sind, rechtfertigt die
Publikation derselben. Sie sind an und für sich be-
deutend, iheilweise auch schön und gewinnen noch