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1895. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 7.
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grund erhebt sich hinter der Pforte der Hölle
eine Felsenlandschaft mit zwei Höhlen. In einer
derselben sieht man drei Verdammte in einem
Kessel, unter dem Feuer brennt, in der andern
zwei auf der Folterbank liegen. Die Gruppen
sind von ungewöhnlicher Kraft, etwas derb,
aber voll wundersamen Lebens. Nach heutiger
Anschauung stöfst die starke, naturalistische
Durchführung der nackten Körper, bei denen
übrigens mit grofsem Geschick der Sittsamkeit
Rechnung getragen ist, aber man mufs das
Können des Meisters anerkennen. Schön sind
seine Gestalten sicher nicht, er hat eben Leute
aus dem Volk ohne
besondere Auswahl als
Modelle benutzt. Vom
plastischen Ebenmaafs
griechischer Formen
mufs man absehen,
dann darf man aber
zugeben, dafs dieser
Bildschnitzer hier mehr
Wahrheit geboten hat,
als die meisten seiner
Nebenbuhler.
Drei der vier übri-
gen, in die untern Ni-
schen gestellten Grup-
pen sind anbei abge-
bildet. In der ersten
Figur sehen wir Joa-
chim und Anna vom
Priester abgewiesen
wegen ihrer Unfrucht-
barkeit; in der zweiten
beweist das halbe Thor
des Hintergrundes, dafs
es sich um die Be- Abb- 2' Die Be*es»u"8
gegnung unter der goldenen Pforte handelt.
Dort ist die Trauer des alten Joachim geschil-
dert, welcher bei seiner Gemahlin Trost und
Stütze sucht, aber die Antwort erhält: „Was ist
zu machen ?" Eine feine Andeutung liegt darin,
dafs Anna im ersten Bilde ihren Mantel schliefst,
im zweiten aber, nachdem sie die Verheifsung
der Fruchtbarkeit erhielt, ihn vom Schoofse
herabfallen läfst.
Köstlich ist das dritte Bild. Magdalena hat
sich zu Christi Füfsen hingeworfen, um sie zu
salben, der Heiland läfst sie ruhig machen und
blickt mild herab. Der Gastgeber ist verdriefs-
lich, dafs diese „Sünderin" sich eindrängte und
arbeitet voll Verlegenheit mit der Gabel an
seinen Zähnen. Seine neben ihn sitzende Frau
verbirgt mühsam ihren Aerger und schmollt.
Ihr Nachbar folgt seiner Neugierde, lehnt sich
über den Tisch und schaut zu, was denn das
eingedrungene Weib beginne. Mit Recht sagt
Schulz in seinem oben erwähnten Gutachten:
„Ich wüfste nicht, wie man mit so einfachen
Mitteln die Erzählung des Evangelisten präziser
wiedergeben könnte. Dabei ist die Figur des
vornübergebeugten Pharisäers mit einer be-
merkenswerthen Kühnheit aus dem vollen Block
herausgehauen".
Wie die beiden
ersten Gruppen der
Geschichte Joachims
und Annas gewidmet
sind, so schildert neben
der dritten Szene auch
die vierte ein auf Mag-
dalena bezügliches Er-
eignifs. Wie viel ist in
ihr wiederum mit den
einfachsten Mitteln ge-
sagt. Dafs die Szene
im Garten vor sich
geht, zeigt ein Baum
und eine hinter der
Gruppe angebrachte
Gartenthüre. Der Herr
ist nur mit einem gro-
fsen, über die Schultern
geworfenen, vorne um
den Leib geschlagenen
Tuch bekleidet und
so als Erstandener ge-
kennzeichnet. In der
Linken hält er eine
unter der goldenen Pforte.
Schaufel, die Rechte erhebt er. Vor Magdalena
steht auf ihrem, in weiten Falten den Boden
bedeckenden Mantel ein Salbgefäfs. Voll Staunen
hat sie die Hände zusammengeschlagen, voll
Ehrfurcht sank sie in die Kniee, jetzt erhebt
sie voll begeisternder Liebe Haupt und Blick
zum Meister.
Im zweiten AI taraufsatz ist neben einer
neuen in einer Nische aufgestellten Figur rechts
und links je ein Flügel mit vier bemalten
Tafeln befestigt worden. Die einzelnen Ab-
theilungen schildern: 1. die Heimsuchung,
2. die Beschneidung, 3. die Anbetung der
Könige, 4. die Opferung im Tempel, 5. die
1895. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 7.
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grund erhebt sich hinter der Pforte der Hölle
eine Felsenlandschaft mit zwei Höhlen. In einer
derselben sieht man drei Verdammte in einem
Kessel, unter dem Feuer brennt, in der andern
zwei auf der Folterbank liegen. Die Gruppen
sind von ungewöhnlicher Kraft, etwas derb,
aber voll wundersamen Lebens. Nach heutiger
Anschauung stöfst die starke, naturalistische
Durchführung der nackten Körper, bei denen
übrigens mit grofsem Geschick der Sittsamkeit
Rechnung getragen ist, aber man mufs das
Können des Meisters anerkennen. Schön sind
seine Gestalten sicher nicht, er hat eben Leute
aus dem Volk ohne
besondere Auswahl als
Modelle benutzt. Vom
plastischen Ebenmaafs
griechischer Formen
mufs man absehen,
dann darf man aber
zugeben, dafs dieser
Bildschnitzer hier mehr
Wahrheit geboten hat,
als die meisten seiner
Nebenbuhler.
Drei der vier übri-
gen, in die untern Ni-
schen gestellten Grup-
pen sind anbei abge-
bildet. In der ersten
Figur sehen wir Joa-
chim und Anna vom
Priester abgewiesen
wegen ihrer Unfrucht-
barkeit; in der zweiten
beweist das halbe Thor
des Hintergrundes, dafs
es sich um die Be- Abb- 2' Die Be*es»u"8
gegnung unter der goldenen Pforte handelt.
Dort ist die Trauer des alten Joachim geschil-
dert, welcher bei seiner Gemahlin Trost und
Stütze sucht, aber die Antwort erhält: „Was ist
zu machen ?" Eine feine Andeutung liegt darin,
dafs Anna im ersten Bilde ihren Mantel schliefst,
im zweiten aber, nachdem sie die Verheifsung
der Fruchtbarkeit erhielt, ihn vom Schoofse
herabfallen läfst.
Köstlich ist das dritte Bild. Magdalena hat
sich zu Christi Füfsen hingeworfen, um sie zu
salben, der Heiland läfst sie ruhig machen und
blickt mild herab. Der Gastgeber ist verdriefs-
lich, dafs diese „Sünderin" sich eindrängte und
arbeitet voll Verlegenheit mit der Gabel an
seinen Zähnen. Seine neben ihn sitzende Frau
verbirgt mühsam ihren Aerger und schmollt.
Ihr Nachbar folgt seiner Neugierde, lehnt sich
über den Tisch und schaut zu, was denn das
eingedrungene Weib beginne. Mit Recht sagt
Schulz in seinem oben erwähnten Gutachten:
„Ich wüfste nicht, wie man mit so einfachen
Mitteln die Erzählung des Evangelisten präziser
wiedergeben könnte. Dabei ist die Figur des
vornübergebeugten Pharisäers mit einer be-
merkenswerthen Kühnheit aus dem vollen Block
herausgehauen".
Wie die beiden
ersten Gruppen der
Geschichte Joachims
und Annas gewidmet
sind, so schildert neben
der dritten Szene auch
die vierte ein auf Mag-
dalena bezügliches Er-
eignifs. Wie viel ist in
ihr wiederum mit den
einfachsten Mitteln ge-
sagt. Dafs die Szene
im Garten vor sich
geht, zeigt ein Baum
und eine hinter der
Gruppe angebrachte
Gartenthüre. Der Herr
ist nur mit einem gro-
fsen, über die Schultern
geworfenen, vorne um
den Leib geschlagenen
Tuch bekleidet und
so als Erstandener ge-
kennzeichnet. In der
Linken hält er eine
unter der goldenen Pforte.
Schaufel, die Rechte erhebt er. Vor Magdalena
steht auf ihrem, in weiten Falten den Boden
bedeckenden Mantel ein Salbgefäfs. Voll Staunen
hat sie die Hände zusammengeschlagen, voll
Ehrfurcht sank sie in die Kniee, jetzt erhebt
sie voll begeisternder Liebe Haupt und Blick
zum Meister.
Im zweiten AI taraufsatz ist neben einer
neuen in einer Nische aufgestellten Figur rechts
und links je ein Flügel mit vier bemalten
Tafeln befestigt worden. Die einzelnen Ab-
theilungen schildern: 1. die Heimsuchung,
2. die Beschneidung, 3. die Anbetung der
Könige, 4. die Opferung im Tempel, 5. die