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Der Bau der Madeleioe- Kirche Contants ist Entwurf geblieben. Sicher hätte
er aber in Verbindung mit dem Platzprojekte Gabriels eine große Zierde von Paris ge-
bildet und wesentlich dazu beigetragen, die so lange nicht oder nur gering gewürdigte
Kunst jener Zeit bei der Nachwelt in einem anderen, günstigeren Lichte erscheinen zu
lassen. Die einzelnen französischen Bauschulen in den Zeiten Ludwigs XIV. und XV.
sind noch nicht scharf geschieden. Sehr wichtige Bauten der einzelnen Provinzialschulen
müßten in ihrer Eigenart erst eingehend untersucht und mit der gleichzeitigen Pariser
Schule verglichen werden. Unsere Anschauung über die Baukunst jener Zeit würde da-
durch sicher eine wesentliche Änderung und Bereicherung erfahren und Contants Ent-
wurf dürfte als ein wertvolles Beispiel einen nicht unbedeutenden Beitrag dazu bieten.
Ideale Zentralbauten des späten Quattrocento
und der Stilo Lionardesco.
Von Dr. Fritz Hoeber-Florenz.1
Jakob Burckbardt hat noch in seinen letzten Lebensjahren in einem Nachtrag
zu seiner Renaissance in Italien auf die Bedeutung der in Gemälden, Reliefs etc. dar-
gestellten Baulichkeiten als sachliche Quelle für die Architekturgeschichte hingewiesen:
in ihnen ist, wie er sagt, eine weitere Kunde des Baugeistes der Renaissance in ihren
jeweiligen Wandlungen zu gewinnen, indem dieselben ungehemmt auch solche Gedanken
verwirklichen, welchen die Ausführung versagt war.
Das arcbitektonische Hauptproblem des späteren Quattrocento bildet die Frage
nach der Gestaltung des kirchlichen Zentralbaues. Der einfachste Typ, der uns im Hinter-
grund von Gemälden etc. erscheint, ist der Achteck- oder Rundbau, auf die Form des
Baptisterium zurückgehend. Kompliziert wird dann diese Gestalt dadurch, daß diese
kleinen polygonalen Tempel von Jerusalem, der regelmäßige gegenständliche Inhalt
dieser Zentralbauten, niedrige (griechische) Kreuzarme als Vorlagen erhalten, die entweder
mit Sattel- oder aber mit (rundgebogenem) Zeltdach abgedeckt werden: Pinturicchio
und Perugino, bei welchem allein der letztere viel differenziertere Modus, in Caen,
vorkommt. Rafael gibt bekanntlich hier einen Säulenarkaden-Umgang mit Strebe-
pfeiler-Vermittlung.
Der Hauptplatz für die Förderung des Zentralbaugedankens ist, wie Gey müller
in seinem Vortrag The Schoo! of Bramante 1891 schon dargetan, Mailand. Lionardo
und Bramante teilen sich derart in die Arbeit, daß Lionardo darin sozusagen das Prinzip der
Mannigfaltigkeit in der Einheit vertritt, Bramante hingegen das der Einheit in der Mannig-
faltigkeit; d. h. Bramante faßt wieder das zusammen, was Lionardo bis ins allereinzelnste
differenziert hat. Dieser übermäßig differenzierte Stilo Lionardesco ist nun das ge-
meinsame Charakteristicum für die Wandlung des Zentralbaugedankens im späten Quattro-
1 Vorgelesen in der wissenschaftlichen Besprechung im kunsthistorischen Institut. Florenz, den
29. Februar 1908.
Der Bau der Madeleioe- Kirche Contants ist Entwurf geblieben. Sicher hätte
er aber in Verbindung mit dem Platzprojekte Gabriels eine große Zierde von Paris ge-
bildet und wesentlich dazu beigetragen, die so lange nicht oder nur gering gewürdigte
Kunst jener Zeit bei der Nachwelt in einem anderen, günstigeren Lichte erscheinen zu
lassen. Die einzelnen französischen Bauschulen in den Zeiten Ludwigs XIV. und XV.
sind noch nicht scharf geschieden. Sehr wichtige Bauten der einzelnen Provinzialschulen
müßten in ihrer Eigenart erst eingehend untersucht und mit der gleichzeitigen Pariser
Schule verglichen werden. Unsere Anschauung über die Baukunst jener Zeit würde da-
durch sicher eine wesentliche Änderung und Bereicherung erfahren und Contants Ent-
wurf dürfte als ein wertvolles Beispiel einen nicht unbedeutenden Beitrag dazu bieten.
Ideale Zentralbauten des späten Quattrocento
und der Stilo Lionardesco.
Von Dr. Fritz Hoeber-Florenz.1
Jakob Burckbardt hat noch in seinen letzten Lebensjahren in einem Nachtrag
zu seiner Renaissance in Italien auf die Bedeutung der in Gemälden, Reliefs etc. dar-
gestellten Baulichkeiten als sachliche Quelle für die Architekturgeschichte hingewiesen:
in ihnen ist, wie er sagt, eine weitere Kunde des Baugeistes der Renaissance in ihren
jeweiligen Wandlungen zu gewinnen, indem dieselben ungehemmt auch solche Gedanken
verwirklichen, welchen die Ausführung versagt war.
Das arcbitektonische Hauptproblem des späteren Quattrocento bildet die Frage
nach der Gestaltung des kirchlichen Zentralbaues. Der einfachste Typ, der uns im Hinter-
grund von Gemälden etc. erscheint, ist der Achteck- oder Rundbau, auf die Form des
Baptisterium zurückgehend. Kompliziert wird dann diese Gestalt dadurch, daß diese
kleinen polygonalen Tempel von Jerusalem, der regelmäßige gegenständliche Inhalt
dieser Zentralbauten, niedrige (griechische) Kreuzarme als Vorlagen erhalten, die entweder
mit Sattel- oder aber mit (rundgebogenem) Zeltdach abgedeckt werden: Pinturicchio
und Perugino, bei welchem allein der letztere viel differenziertere Modus, in Caen,
vorkommt. Rafael gibt bekanntlich hier einen Säulenarkaden-Umgang mit Strebe-
pfeiler-Vermittlung.
Der Hauptplatz für die Förderung des Zentralbaugedankens ist, wie Gey müller
in seinem Vortrag The Schoo! of Bramante 1891 schon dargetan, Mailand. Lionardo
und Bramante teilen sich derart in die Arbeit, daß Lionardo darin sozusagen das Prinzip der
Mannigfaltigkeit in der Einheit vertritt, Bramante hingegen das der Einheit in der Mannig-
faltigkeit; d. h. Bramante faßt wieder das zusammen, was Lionardo bis ins allereinzelnste
differenziert hat. Dieser übermäßig differenzierte Stilo Lionardesco ist nun das ge-
meinsame Charakteristicum für die Wandlung des Zentralbaugedankens im späten Quattro-
1 Vorgelesen in der wissenschaftlichen Besprechung im kunsthistorischen Institut. Florenz, den
29. Februar 1908.