Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Badische Post: Heidelberger Zeitung (gegr. 1858) u. Handelsblatt (61): Badische Post: Heidelberger Zeitung (gegr. 1858) u. Handelsblatt — 1919 (September bis Dezember)

DOI Kapitel:
Nr. 202-227 (1. September 1919 - 30. September 1919)
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.3728#0144
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Mittel in.der Hand hat, ünser Vott zu bessern, indem er stetig an
dcr eignen Veroollkommnung nrbeitet und nichts sein will als gut
deutsch d. h. aufrichtig wandeln oor Eott und der Welt. Nrcht das
CtreLen nach neuer Macht und Grösre, sondern die Siegeskräfte des
Christentums in persönlicher Aneignung erfatzt und verwirklicht zei-
gen den rechten Weg aus dem Chaos. „Wir wollen dicmen", sei die
Losung dsr Zukunft, sie verbürgt die Herrschaft des Euten und damit
den Frieden. Aber „wenn das deutsche Volk kein gottergebenes Volk
ist und bleibt und aus diesem Geist heraus serne Staatsangelegen-
heiten ordnet, so versinkt es in Barbarentuin und es ist nicht zu wun-
dern. wenn wir uns gegenseitig totschlagen".

Jn diesen Tagen. da krasier Materialismus, Cenusisucht und wirrer
Taumel weite Kreise befallen, benötigen wir mehr denn je einen
Führer zur Selbsteinkehr. zur Jnnerlichkeit, die Zeit der, Znter-
nationale braucht Mahner zum Deutschtum. Hans Thoma ist uns
beides. Aus den tiefen Quellen reicher Lebensweisheit zeigt er uns
den einzigen, wahren Weg zur Eesundung und zum Aufstieg. Möchte
das Leutsche Volk die Kraft finden. diesen Weg des Heils zu gehen!

Thomas Sprache ist klar, schlicht, körnig Mw bildhaft. Nicht
selten erhebt fie sich zu den freien Höhen reinster Poesie. Der Maler
wird zum Dichter und kann sich ruhig mit den Erötzen deutscher Stil-
kunst < ' mesien. Die „Harfenklänge eines Pilgers am Strome des Vor-
überganges, (aus: Wege zum Frieden) sind von solch sprachlichem
Wohllaut, von solcher Leuchtkraft und Schönheit erfüllt. datz wenig!
in drr deutschen Literatur dem gleichkommt.

Heute zum 80. Eeburtstag grützen wir Badener voll tiefer Ver-
ehrung'und Dankbarkeit unseren grohen Meister. in dem Maler.
Dichter und Mensch zu unlöslicher Einheit verschmolzen. der im wahr-
sten und edelsten Sinn des Wortes das ist, was uns gegenwärtig am
meisten nottut — eine deutsche Persönlichkeit.

Albrecht Wolfinger

Das Hans Thoma-Buch

Jm Verlag von A. E. Seemann in Leipzig ist von Karl
Josef Friedrich „Das Hans Thoma - Buch" „als Freundesgabe
für hes Meisters 80. Eeburtstag" herausgegeben worden. Das rei-
zend zusanrmengestLllte Büchlein trägt intimen Charakter. Wir er-
fahren aus dem reichen Leben des grohen Künstlers das Menschliche,
das Persönliche, das sich im Kreise lü:r Familie. im EesprLch und
Vriefverkehr mit Freunden und Bekannten äutzerte. Und man fühlt
hindurch, mit welcher Eüte und Sinnigkeit. mit welchem Edelmut
Hans Thoma als Mensch wirkt und gewirkt hat. Zwei rührende
Driefe der Mutter geben ein Bild von der schlichten. guten Landfrau,
der Lcsorgten Mutter des grotzen Sohnes. Wir hören oon seinem
srüh verstorbenen Bruder Htlarius durch seine Schmester Agathe.
datz auch er sich als Dichter versucht hat und die angeführte „Grab-
schrift" laßt uns einen Blük tun in das Herz eines edlen Menschen.
Man begreift, datz diese Eüte und Neinheit der Seele des 80jährigen
Meisters ihm aus dem Elternhause mitgegeben worden ist. aus einem
Hause echt deutschen, sinnigen Lebens. Jm deutschen Bauernhause
wurzelt die Kraft zu einer rein deutschen Kunst. Gerade durch seine
Cchlichtheit. diese innere Unberührtheit von dem Hählichen des Le-
benskampfes, der auch ihm nicht erspart blieb und durch das kindlich
reine Ecmüt, gkng sein persönlicher Einflutz weit LLer den Rahmen der
Kuv.siliebhaber und Künstler hinaus. Selbst dis Kinder sehen aus
seinen reizendcn Kinderbildern den gütigen lieben Menschen. So
harmlos nett schreibt ein Kirür: .Du hast aber schöns Vilder in die
Bücher gemalt, schöne Mädchen hast Du auch gemalt." „Ach. Du lieber
Erotzvater Hcms!" So wirkt er auch in seinen Unterhaltungen und
Reden auf die einfachen Menschen. Ein Arbeiter erzählt: „Vor eini-
gen Wochen hat uns Hans Thoma einen Vortrag gehalten über
Kunsr und Augenfreude, und seitdem habe ich die Oeldrucke und Ver-
einsbilder und all den Lunten Kram an den Wändenl nicht mehr sehen
mögen. Das war mir alles verleidet und jetst fang ich einfach von
vorne an. Schau, hier ift der Anfang. Das ift der Sämann von
Hans Thoma und klun soll ein gutes Bild> nach dem anderen Einzus
halten."

Nichard Dehmel, Cäfar Flaischlen, Siegfried Wagner und viele
andere haben Eaben hier vereinigt. Einzelne Vilder aus dem Leben
und der Familie des Meästers erhöhen den Wert des gutausg^tatteten
Duches. Alle Thomafreunde werden viel Freude daran haben.

Gedanken / Wilhelm Weigand

Den meisten Menschen ist das Schöne nur als Manier zu-
ganglich.

Wenn das Jdeelle in der Kunst nur Reflexion ist, wirkt es auf-
dringlich und v-erletzend.

Die Schönheit ist ein Urphänomen.

llrphanomene lernen wir nur in ihren Wirkungen kenn^

Wer Eötter stürzt. kann keine schaffen.

Serbstwanderung / H. v. Schubert

Wie schön bist Du, mein Vaterländl Zu denr Desten, was der
Krieg gebracht hat, gehört diese Erkenntnis bri vielen. die es vorher
nicht wutzten. Den Einen hat das Marschieren und Hausen in deä
fremde' Ländern sie geweckt. den Anderen. den Heimkriegern. die
Notwcndigkeit, sich ihre Erholung innerhalb der Reichsgrenzen zu
suchen — statt in Italien, der Schweiz oder am Noückap. Urrd wenn
nun gar der Herrgott einen solchen Herbst schenkt! Freilich. zunächst
heitzl es: das Leben ein Kampf — auf der Bahn um einen Platz.
Wer's mit der Zeit nicht so eilig nnd dazu se'.ne Knochen lstlb hat.
deni kann man nur zu Bummelzügen raten. Da allcin blüht noch
ein gewlsses Reisebehagen. Vielleicht lernen wir noch die Postkutschs
als ein Paradies anfehen. Jedenfalls war's auf der Fahrt ins rhei-
nisch-westfälische Zndustricgebiet fürchterlich. Dort wohnen die Men-
schen ohnehin dicht bei dicht, nun aber geht nur ein einziger Schnell
zug. und den müssen auch alle die benutzen, die sonst rechts- oder l'.nks
rheinisch fuhren und nun Grund haben. die besetzten Eebiete zu m:'
den. Es war schon nicht schön, zwischcn Hcidelberg und Frankfur
„zweiter Klasie zu stehen", und zu erleben. wie eine österreichischc
Eräfin, mome Nachbarin als „Standesperson", im Eetümmel dcs
Ausstieges in den Abgrund zwischen Wagen und Bahnsteig versank,
aber derlei trat doch ganz zurück gegen den Anblick der unerhörten
Menge, die etwa im Siegen'schen oder in Hagen den Sturm auf die
Wagen eröffnete. Es mutz ja nicht gerade die Türe sein! Man konnte
nur die Entschlossenheit des Feldwebelleutnants mit dein E. K. l
bewuridern, der bei Station X. erst seine werte Frau, dann seine drei-
zehnjährige Tochter, endlich seinen neunjährigen Bengel dnrchs Fen-
ster in des Eanges drangvoll fürchterliche Enge schickte. um schlietzlich
selbst hinterdrein zu steigen. Die von den Mitreisenden mit Span-
nung erwarteten Erotzeltern der unerschrockenen Familie folgten doch
nicht auf dem gleichen Wegc!

Aber ich wollte vom Wandern erzählen. Vom freien Wandern
auf brciten Straßen und schmalen. lauschigen Waldw-egen. über luf-
tige Höhen und zwischen wogenden Feldern. die noch des Schnitters
harrlerl. Mich gelüstete es. von Westfalen aus quer durchs Land
an den Rhein zu ziehen — just an den Rhein, den sie haben wollen
und nicht haben sollen und von desien Mittellauf nur ein kleines
Stück zwischen den drei Kreisbogen der drei Vrückenköpfe frei vom
Feinde ist — ein ganz schmales Lei Bacharach und Caub, geheiligt
durch das Eedächtnis an Vlüchers Uebergang, ein breiteres von Kö-
nigswinter bis Linz, das ganze Siebengebirge. das schöne. allen alten
Vonner Studenten teure Fleckchen EiLe mit seinen Schlösiern und
Burgen, mit seinen Waldtälern und Nuinen. Sollen wir unserer
Iugend den Vater Rhein nicht zeigei^ dürfen? Sollen sie sich nicht
erheben dürfen am Anblick des machtigen Stromes. dessen Ufer über-
sät sind mit dsn Zeugen grotzer deutscher Geschichte? Ia. und aber-
mals ja! So nahm ich mein jüngstes TLchterlein an die Hand und
pilgerte mit ihr durchs westfälische Sauerland, durch die oberbergischen
Eelände, über eine Höhenkette nach der anderen. von Tal zu Tal. bis
die schöne Silhouette des siebengipfeligen Eebirges vor uns lag und
immer näher rllckte. Es war ein Wandern immer dicht am Englän-
der vorbei — zweimal war's nicht ganz einfach. Bei Drabenderhöb
(Drcben-auf-der-Höh) gelanq es noch rechtzeitig. abzubiegen und crst
im Dorf jenseits der Kirche aufzutauchen. während d'e Tommies
diesseit in der offenen Türe des Eastbofs lauerten. Em andermal
beriet uns ein guter Eeist. die Kleinbahn schon an einer srüberen
Station zu verlasien. Man hilft sich gegenscitig ohne viel Worte,
Marcher nimmt's leichter. mancher hat's aber auch butzen mussen.
Eo war es einer Dame geschehen. die von Königswinter aus obne
Ausweis sich hatte über den Rhein setzen lassen und drüben ein vollcs
Vierteljahr festgehalten worden war. Die Herren Englander nehmen
es mit sich selber weniger streng. In Remscheid wis an anderen
Orten erschienen sie völlig ungeniert. bummelnd auf unbesetztcin Ee-
biete. Das weckte sebr verschicdene Gegenw'.'rkungen — leider waren
auch hier Fälle deutscher Würdelosigkeit. namenUich bei den Mäd-
chen, nicht selten, und andererseits waren Prügelei und Totschlag die
Folge. Im ganzen gab es doch erfreuliche Eindrücke — „sie werden
vernünftiger". hietz es: „sie kehren jetzi' die Dorfstratze selber und
stellen nicht mehr die Deutschen an". — und unter unserer Bevölkerung
viel ehrlicher Zorn über die Lutzere und innere Schmach. viel offene
oder verhaltene vaterländische Entrüstung. Da kamen zwei hochstäm-
m'-ge Durschen daher, die Kriegsauszeichnungen im Knopfloch. Ein
kurzer Wortwechsel: „Wir wollen nicht umsonst gekämpft haben" und
dann einige herzhQfte Worte. an denen man seine Freude haben
mutzte. Es ist sicher, datz die drüben uns noch immer fürchten, wehr-
los wie wir sind, auch unsere Arbeit. so wenig, Eott sei's geklagt. ge-
arbeitet wird, wie vor dem Kriege. Zwar in Hagen und Elberfeld.
in Nemscheid und Lennep hatte man ein ruhiyes Bild: die Räder
surrten und die Hämmer gingen. Aber die Unternehmer alle waren
voll tiefer Sorge. Was wird der Winter bringen? Wird es zum
Plündern kommen, wenn die Kohlennot und Arbeitslosigkeit höher
und höher fteigen. und werden die Truppen ausreichen? Selbst in
Lennep. dem Muster eines Lehaglichen ältbergischen StädtchMS, spielte
der Radikalismus eine Nolle. Zn dem kleinen. Hoch gelegenen Städt-
cheir und in seiner romantischen Unigebung laqen alle Werke still:
man streikte und verlangte 25 oder gar 50 v. H. Lohnerhöhung, ob-
gleich man sich bis zum 1. Ianuar auf den Tarif festgelegt hatte, dazu
eine Ferienwoche mit Lobnzahlung. Eine seltsame Mischung in diesee
Eegend von patriarchalischem Wesen und modernsten Radikalismus.





Elue Wohnung von 3 Zimmern zu 150 Mark Miete im Zahre und
leder Arbeiter mit einem Stück Land. — Und doch der gröhts Prozsnt-
satz Unabhängiger im ganzen Reich! Und doch mutzte der Besitzer des
Waldes, mit dem ich ging. es ruhig mitansehen. wie zwei feiernde Ar-
bclter einen stattlichen E.chbaum. den sie sich soeben aus dem Forst ge-
holt, auf der Stratze frei davonfuhren! Was treibt die Leute zu Un-
ordmmg uvd Unzufriedenheit? Es war auch hier nur das Werk eini-
gsr gewissenloser Hetzer, eines Lehrers und zweier Arbeiter, die grotzc ^
Menge aber war so unverständig und unselbständig im Urteil, datz sie ^
drer Tage, nachdcm sie sich für die U. S. P. entschieden hatte, sich aus,
Bersehcn einen Mehrheitssozialisten äls Nedner verschrieben. Aber
auch hier dieselbe dumpse. ungezügelte Leidenschaft. An einer Stelle
war es bis zum Sturm aufs Rathaus gekommen. Da war Reichs-
wel/r eingerückt. Man hatte sie beschimpft. Ein baumlanger West-
sale sprmgt vor, reitzt eine Handgranate heraus und droht sie ihnen
ins Eesicht zu schleudern. wenn noch ein Wort falle. Der Widerstand
war sofort gebrochen. Auch auf dieser Seite entscheidet der Mut des
^inzelnen. Führer machen es, die Masse folgt hierhin und dorthin,
rust „Hosiannah" und ruft „Kreuzige". Und unter dsm Ganzen ver-
blrgt sich doch viel Tüchtigkeit. Es ist so viel Unechtes, Ungelerntes,
Vorübergehendes dabei. Ich mvtz an den wilden Krtegsbeschädigten
denken, der in der Eisenbahn vergeblich auf einen Sitzplatz spokulierte;
niemand sah ihm seine Wunde an. „Jch könnte dem Protzen dort in
der Ecke eins in die Fresss geben! Warum kann da nicht noch einer
sitzen!" Einige Minuten später seha ich ihn mit sanftem Angesicht in
die Türe treten und höflichst um den Platz bitten. der ihm sofort von
dem „Protzen" eingeräumt wird. Und dieser entwickelt sich zu einem
der liebenswürdigsten und humorvollsten Reisegefährten, hen ich er-
lebte. und uns allen werden die Stunden. die nun folgten und so krie-
gerisch emgeleitet wurden, lange in der anmutigsten Erinnerung
bleiben.

Es liegt ein schwerer Schatten über dem Lande trotz ,der strah-
lenden Sonne. Aber man konnte doch nicht anders. als hofsen und
wieder hoffcn. Welche Eleichmätzigkeit der Kultur! Da war doch nicht
ein Dorf. das nicht sauber und freundlich, mit frischgekalkten Häusern
und blumengeschmückten Fenstern. in den Väumen traulich halb ver-
steckt vor uns lag — nirgends der Eindruck des Verfalls. Eewitz,
dort hatte sich der Vesitzer einer Ziegelei „bankerott gearbeitet", ustd
sie mutzte abgebrochen werden. und dort waren die Häuser im Bau
stecken geblieben. Aber alles in allem — es ist unmäglich. sich dem
Eindruck dieses Kulturbildes zu entziehen, wenn man so von Dorf zu
Dorf, von Städtchen zu Städtchen durch die deutschen Gaua zieht. Das
sitzt zu tief, das kann nicht über Nacht^wie ausgelöscht sein, sie kommt
wieder, die verschwunden scheint — die gute deutsche Art. Als wir
oom Oelberg, dem höchsten Gipfel der sieben Berge. die AbeMonne
glutrot über dem besetzten Gebiet untergehen sahen, den heiligen
deutschen Strom, die herrlichen gottgesegnetvn Lande ausgsbreitet zu
unseren Füßen, da quoll dis starke Ueberzeugung nach oben: es kommt
wieder anders — Freunde. es kommt mieder anders! Man mutz nur
die Jugend in Drenst und Pflicht nehmen. Und ich nahm meine Iu-
gend von neuem in die Pslicht des Vaterlandes und gedachte derer,
die uns das Vermächtnis wie ein brennendes Feuer in die Ssele
gelegt haben. Dann zogen wir schweigeiü» und feierlich selbander durch
den ragenden Forst im Mondschein zu Tale. Englische Scheinwerfer
bl'tzten auf — sie suchten das rechte Rheinuser ab. Uns aber halfen
sis de.l deurschesten der Ströme erkennen!

Auf dem RUckweg zwei Tage darauf und nachdem wir den
wundervollen L'.mburger Dom besucht hatten, — welch' eine Fülle
seinster deutscher Kunst grützte uns hier in der frühen Morgen-
sonne! — standen wir in der Saalburg im Taunus. Römische Zwing-
burg im deutschen Chattenwald! Aber es kam die Zeit. da brauste
der Sturm durch diese Wälder, und die fremden Kastelle und festen
Wälle wurden zu Ruinen, die wir heute wieder aufbauen müssen.
unr unserc Kinder Lelehren zu können. wie es einmal war. Heute
hritzt Rom England. Man kann aus der Geschichte nicht einfach
Ersetze abschreiben. denn sie wiederholt sich nie völlig. aber srheben
und stärken kann und soll man sich an ihr und lernen kann man doch
aus ihr. datz auch eine gefesselte Krast Kraft bleibt. datz die Zeiten
sick) wandeln und auf Zeiten der Schwäche andere folgen, da die
Fesseln wieder sinken. Wenn nur der Elaube an die eigene Kraft
und das eigene Reicht und damit an die eigene Zukunft nicht erlischt!
Das latzt unsere Sorge sein.

Wetter und Klima als Gestalter unserer
Sagemvelt

Die Bedeutung der Witterung in Mythen und Märchen.

Als das Erbe der Götter- und Sagenwelt unserer Altvorderen
werden die Märchen unferer Kinder stets von ehrsürchtiger Erinne-
rung umwoben sein. Zn ihren ftühesten Zeiten verm^te dle Mensch-
beit stch die Naturgeschichte noch nrcht zu erklaren und sie erblrckte rn
ibnen die Kämpfo überirdffcher. wi.Lereinanderstreitender Eewalten.
Man verstand den Lauf der Gestirne. den Wandel der Jahrzehnten. Ee-
witter und Sturnr nicht als gesetzmätzlgo Veränderungen im Weltall
durch Einwirkung natürlicher Kräfte. sondern man glaubte das Wal-
ten und Ringen zahlreicher Eötter und der diesen untertanen Riesen.

^/''Zauberer Hcren und Feen zu erleben. So entstanden die Eötter-

sagen und der Mythos. Erst später verdrängten naturwissenschaftliche
Cikenntnisse den Eötterglauben, und die Erinnerungen an die Welt
der überirdischen Eewalten verblahten. Nur dort. wohin wissenschaft-
liche Erklärungen noch nstht gcdrungen waren, bej der grotzen Masse
und bei den Kindern. erhielt sich dio andächlige Scheu vor den Eöttern
und Eöttinnen. doch verwandelten diese sich allmählich in der münd-
llchen lleberlieferung von Geschlecht zu Eeschlecht in Helden und Rit-
ter, Königinnen und Feen. Hexen und Elfen. Aus Sagen wurden
Märchon.

Diese Sagen sind oft von sonderbaren und rätselhaften Ereig-
nlss:,, erfüllt. Seit Zahrzehnten sind Eelehrte und Forscher bemüht
gewesen^ die unvc-rständlichen Eeschehniffe in den Mythen und Märchen
zu erklären, indem sie zeigten. datz die Eötter- und HeldenMalten
nur Sinbilder von Naturmächten sind, datz in ihnen die Eestirne. das
Mecr, die Jahreszeiten, Tag und Nacht ihren Ausdruck saiÄen. So
spiegelr sich der Winter im Märcheu wi-'der, wmn Frau Holle ihve
Betten ausschüttelt, dah die weitzen Daunen auf die Erde niedersinken.
In neuester Zeit macht man nun auch Versuche, statt aus den Natur-
vorgängen die Sagen und Märchen zu erklären, aus diesen zurückzu-
schliehen auf Ereigni>ffo am Sternenhimmel und aus der Erde, dio vor
urlangen Zeiten den Anstotz gaben zur Mythenbildung. So werden
uns unsere Märchen zu Bildern von dem Zustand der Erde, wie er
sich vor einem und mehreren Iahrtausenden den Menschenaugen
darbot.

Aus diesen noch recht verschleierten Bildern sucht ein Auffatz
von Dr. Victor Engelhardt in der „Naturwiffenschaftlichen
Wochenschrift" neue Erkenntnis zu schöpfen. Nicht ausschlietzlich die
Vorgänge am täglichen und nächtlichen Himm-elszelt haben, wie man
bish.'.r meist annahm, den Stoff zur Sagenwelt hergegeben; auch die
Erschernungen innerhalb der Erdatmosphäre. vornehmlich das Wetter,
spielen eine grotze Rolle in der Mythologie. Den Lauf der Eestirne
erblickt man von allen Erdarten aus in nahezu gleicher Weise; Klima
und Witterung aber sind fast überall vorschieden. So entstehen aus
den Sinnbildern von Sonne, Mond und Sternen die in den Mythen
aller Völker einander ähnlichen Grundzüge, während das Erlebnis
der so vcrschiedenartig beschaffenen Witterung den Eöttersagen und
Märchen den charakteristischen Stempel ihrer Geburtslands aufdrückt.
So spielen sich unsere nordischen Sagen im Reiche des Eises und
Schnees ab, während den Taten dex olympischen Eötter der immer
blaue, heitere Himmel Eriechenlands lächelt. Wie verschieden find
auch die Symbolo für die Fruchtbarkeit in der nordischen Edda und
der indischen Veda! Beide Male ist es das Waffer, das hie durstige
Erde labt, doch hier entsteht es aus nimmer auMrLndem. gewaltt-
gen Regengutz, während es im hohen Norden durch dis Vsschmelze
des Frühlings erzeugt wird. In Eriechenland ist Zeus, der crus
furchtbarer Titanenfaust den Blitzftrahl schleudert, her oberste der
Eötter. der mit allen Zügen einer Entsetzen erregenden Granfamkeit
ausgestattet ist, im nördlichen Sagenkreis ist Odrn. der Eott dtt
Stürme und des Meeres. der Beherrscher des Himmels; denn im
Lande des Eises ist der Sturm das dem Menschen gefährlichste Ele-
nient, und Eewitter zeigen sich nur selten in den kurzen. freundlichen
Mc-naten, da Sommerwärme das Eis chezwungen hat . Daher hat
auch der nordische Donnergott Thor ein freundliches Aussehen; er
erschreckt die Irdischen nicht wie Zeus in ungehemmter Tyrannei und
Launenhaftigkeit, sondern or ist eine Macht der Gerechtigkeit. die nur
den Schuldigen straft.

Schn-ee Lallt sich zu Lawinen. und Eis baut Berge uild Höhlen.
Das gefrorene Wasser hat die Eigenschaften eines Baumeisters. nur
datz deffen größte Werke durch ein wenig Wärnie bereits wiü>er iir
das Nichts zerfallen. So entsteht durch das Anschauen der riesigen
Eisberge in der Edda die Sags von dem Riesen, der um den Pveis
ewiger Iugend den Göttern Walhalla erbauen, den aber dann ^rch
Freya nicht erhalten soll. Deshalb wird durch den listigen Loki sern
Werk verzögert — ein wenig mehr Wärme verlangsamt ja die Eis-
bildung — und er kommt um seinen göttlichen Lohn.

Die bedeutsame Rolle des Wetters hat sich auch bei der Wand-
lung dec Sage ins Märchen noch erhalten. In einer von Engelhardt
angesührten, plattdeutschen Form des Hänsel- und Eretelmärchens
werden die'Kinder von der Hexe verfolgt, die sich ln eine grotze,
schwarze Wolke verwandelt hat. In Angst und äutzerster Not ver-
wandeln sich die Kinder nun auch; das Mägdlein in einen Teich und
der Knabe in eine darauf schwimmende Ente. Die Wolke sucht den
Teich auszusaufen; sie nimmt einmal einen immer grötzer werdenden
llmfang an und mutz schlietzlich zerplatzen. So sind di-e verfolgten
Eeschwister gerettet. Deutlich erkennt man lsier. wie das Erleben des
Wetters und Regens erst Sage und dann Märchen gestaltet hat. Ein
grötzeres Waffer ist oftmals ein Hindernis für schwere Wolkenbrüche.
besonders für Eewitterwolken. Dann aber beobachteten die Men-
schen, dah sich eine Wolke in Eestalt von Hagel und Regen ergoh.
wenn sie eine gewiffe Erötze und'Dichtigkeit erlangt hatte.

Dieser Beispiele aus der Sagen- und Märchenwelt gibt es
noch schr viel-e. Es ist eine dankbare Aufgabe. sie zu sammeln und zu
deutcn. Denn sie werden uns weitere Auffchlüffe geben über das
Aussehen der Erde in vorgefchichtlichen Zeiten, wie unsere Urahnen
es erblickten und uns überlieferten. indem sie ihre Naturerlebniffa
in ihve Sagen und deren Gestalten einsponnen, gleichwie man Wert-
sachen in einem Schrein verschlietzt. Nur datz alles das unbewutzt ge-
schah. woher es kommt, dah die Schlüffel zu den Mythen. in denen si«
die Eebeimniffo Lergen. oft erstaunlich schwer zu findcn stnd.
 
Annotationen