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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 20.1885

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Heft 5
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https://doi.org/10.11588/diglit.61341#0102
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solchen Nebensachen zu sprechen wäre des wahren Künst-
lers unwürdig gewesen.
Helenens höchster Wunsch war erfüllt, sie konnte
jetzt wieder das unterbrochene Studium mit allem Eifer
aufnehmen, die Baronin gewährte ihr dazu gern die
Zeit, sie durfte mehrere Stunden täglich in ihrem Zim-
mer den nöthigen Uebungen widmen, dies wünschte
sogar die gütige Frau, die mit inniger Freude sah,
mit welcher Lust Helene ihre Studien betrieb.
Wie angenehm vermochte jetzt Helene alle Stunden
des Tages auszufüllen. Sie hatte volle Beschäftigung
und zwar die angenehmste und anregendste. Die Leitung
des Haushaltes war ihr übertragen, die Dienstboten
waren ihr untergeordnet, nur durch Helenens Mund er-
theilte ihnen die Baronin ihre Befehle. Einen Theil des
Tages verlebte Helene in der Gesellschaft der würdigen
alten Dame, sie las dieser meist aus ernsten wissen-
schaftlichen, besonders historischen oder auch religiösen
Büchern vor, oder sie fetzte sich an das Pianino und
sang eines ihrer reizenden Lieder, immer zum Entzücken
der Baronin, deren Lieblingslieder auch die ihrigen
waren.
Die Baronin war von stets sich gleich bleibender
Güte sür Helene. Sie nahm Rücksicht auf jeden Wunsch,
den diese kaum andeutete. Sobald sie zu bemerken
glaubte, daß das Vorlesen Helene ermüde, mußte diese
auch bei den interessantesten Stellen das Buch fortlegen
und sich in die Fensternische setzen, wo ein Platz für sie
eingerichtet war; dort stand der Maltisch, denn auch
ihr schönes Talent für Blumenmalerei sollte das junge
Mädchen nicht vernachlässigen. Der Gärtner hatte den
Auftrag erhalten, ihr täglich die schönsten Blumen aus
dem Garten zu bringen, aus denen sie sich ihre Modelle
aussuchte. Die Baronin ließ sich, wenn Helene malte,
ihren Lehnsessel durch Walter an das Fenster rücken,
cs machte ihr großes Vergnügen, der Künstlerin bei
ihrer Arbeit zuzuschauen und dabei mit ihr heiter zu
plaudern.
Sie erzählte dann Wohl Helene von manchen frühe-
ren Erlebnissen oder von ihren Verwandten; aber sie
that dies in einer ganz eigenen Art; sie sprach so, als
seien alle ihre Verhältnisse der Zuhörenden längst be-
kannt, und nur wenn diese durch irgend eine Bemer-
kung andeutete, daß dies nicht der Fall sei, unterbrach
sie sich und äußerte dann wohl lächelnd: „Natürlich,
ich vergesse immer, daß Du keine bewußte Erinnerung
von allen diesen Dingen und Personen haben kannst."
Mit besonderer Vorliebe erzählte die Baronin von
ihrem Neffen Ewald, den sic sehr liebte. „Er ist ein
vortrefflicher Mensch," sagte sie, „ein wahrer rechter
Edelmann, ein echter Sproß unseres alten Hauses.
Treu und wahr, redlich und tüchtig, ein tapferer Sol-
dat, ein ernster, thatkräftiger Mann, nicht solch' ein
leichtfertiger Mensch, wie Ferdinand Ohlen es ist, kein
Schuldenmacher, wie dieser, der in Saus und Braus
lebt, obgleich er nichts als seine Majorspension be-
sitzt. Aber es gibt eben nichts Vollkomutenes in der
Welt," fügte sie dann Wohl seufzend hinzu. „Ewald
ist leider ein Freigeist, er gehört zu den Unglücklichen,
die im eifrigen wissenschaftlichen Studium den Glau-
ben verloren haben, während Ferdinand ihn sich be-
wahrt hat trotz seines leichtfertigen Lebens, und das
ist ja das einzige Gute an ihm."
Die Schilderung der Baronin hatte Helene neu-
gierig auf deren Neffen gemacht; sie sollte Beide bald
kennen lernen, und zwar zuerst den Major, der eines
TageS in das Haus der Baronin kam, um, wie er
sagte, sich nach dem Befinden der gnädigen Tante zu
erkundigen, in der That aber, um die schöne Gesell-
schafterin, von der ihm seine Mutter so viel erzählt
hatte, zu sehen.
Die außerordentliche Häßlichkeit des Majors schreckte
im ersten Moment Helene zurück; das dunkelrothe Ge-
sicht, dessen Färbung beredt von zahllosen Flaschen
feurigen Weines erzählte, die bläulich schimmernde,
über den buschigen braunrotsten, den großen Mund
kaum versteckenden Schnurrbart herabhängende Nase,
die kleinen grauen, unter den starken braunrothen Augen-
brauen hervorblitzenden Augen erschienen ihr wahrhaft
entsetzlich und abschreckend, aber diese kleinen grauen
Augen blickten sie so lustig an und dabei lag in ihnen,
als sie länger in sie hineinschaute, ein solcher Ausdruck
von Gutmüthigkeit, daß Helene bald sich mit dem häß-
lichen Gesicht versöhnte.
Der Major begrüßte sie so heiter und ungezwungen,
als sei er schon seit vielen Jahren mit ihr vertraut
bekannt; für ihn gab es überhaupt keinen fremden
Menschen, schon beim ersten Zusammentreffen machte
er bei Jedem die Rechte eines alten Bekannten geltend,
und dies that er auch bei Helene.
Die Baronin stellte den Major, nachdem dieser ihr
die Hand geküßt und sich sehr tsteilnehmend nach ihrem
Befinden erkundigt hatte, Helene vor. „Mein Neffe,
Herr Major Ferdinand v. Olsten — meine liebe Tochter-
Helene," sagte sie, das Wort „Tochter" sehr scharf
betonend, um gleich bei der ersten Vorstellung die
Stellung Helenens, deren bürgerlichen Vatersnamen sie
nicht nannte, klar zu bezeichnen.

Das Buch für Alle.

„Also meine reizende Cousine," rief der Major, Hele-
nens Hand ergreifend und schüttelnd. „Für diefe Art der
Vorstellung kann ich Dir nicht dankbar genug sein,
Tantchen, sie hebt mit einem Male allen lästigen Zwang,
jede Steifheit und Förmlichkeit auf. Cousin und Cou-
sine nennen sich nicht gegenseitig gnädiges Fräulein
und Herr Major, sondern beim Vornamen; die Cousine
läßt sich in ihrer Arbeit nicht stören, wenn der Cousin
zum Besuch kommt, das kann ich nun auch von Ihnen
fordern, Cousine Helene. Sie faßen, als ich eintrat,
hier in der Fensternische und malten, Sie müssen da-
mit ganz ungenirt fortfahren, mir aber erlauben, einen
Blick auf Ihr kleines Kunstwerk zu richten."
Er wartete Helenens Erlaubniß nicht ab, »sondern
trat in die Fensternische und betrachtete aufmerksam
das halbvollendete kleine Bild. „Reizend! Entzückend
naturwahr und von wahrhaft künstlerischer Durch-
führung ! Ich bin ein wenig Kunstkenner, wenn auch
selbst kein solcher Künstler, wie Vetter Ewald; und
ich kann versichern, Cousine Helene, daß Ihre Ar-
beit mich überrascht. Nur das Papier ist ein wenig
zu grobkörnig, bei Spielhagen gibt es jetzt ein vor-
treffliches Papier, ich besorge Ihnen noch heute davon,
Sie sollen Ihre Freude daran haben. Nun aber müssen
Sie wieder malen, wenn Sie mich nicht vertreiben
wollen."
Er holte sich einen Stuhl und setzte sich neben die
Baronin, dann begann er harmlos und unbefangen zu
plaudern; er erzählte ein Paar lustige Geschichten, über
die er selbst herzlich lachte, über die aber auch Helene
unwillkürlich lachen mußte und die selbst der Baronin
ein Lächeln abgewannen. Nachdem er ein Viertel-
stündchen geplaudert hatte, sah er nach der Uhr, hastig
sprang er auf und empfahl sich, er müsse eilen, sagte
er, um zur rechten Zeit zu einer wichtigen Besprechung
zu kommen.
„Eine wichtige Besprechung!" wiederholte die Ba-
ronin, als er fort war. „Natürlich im Weinhause mit
ein Paar lustigen Kameraden. Wie gefällt Dir Fer-
dinand?"
„Er scheint mir sehr heiter und gutmüthig zu sein,"
erwiederte Helene.
„Das ist er; man kann ihm deshalb niemals lange
böse sein. Wäre er nur nicht trotz seiner zweiundvierzig
Jahre noch so leichtfertig!"
Am folgenden Tage kam der Major wieder, er
brachte vortreffliches Papier und einige nicht minder
vortreffliche Pinsel mit, die, wie er mit scharfem Blick
bemerkt hatte, dem Cousinchen fehlten; er blieb etwas
länger als gestern, und fortan kam er täglich immer
zur gleichen Stunde, in der Helene regelmäßig malte.
Er blieb immer derselbe, immer gleich unbefangen,
harmlos und lustig, man konnte ihm wirklich, wie die
Baronin gesagt hatte, nicht böse sein. Helene stand
mit ihm auf dem besten Fuße, sie lachte über seine
Erzählungen, auch oft genug über ihn selbst, was er
uiemals übel nahm, sie plauderte mit ihm ebenso un-
befangen, wie er sich selbst gab, und schon nach einigen
Tagen nannte sie ihn, wie er verlangte, nicht mehr
Herr Major, sondern Vetter Ferdinand.
Ganz anders gestaltete sich das Verhältniß Helenens
zu dem zweiten Neffen der Baronin, zu deren Liebling,
dem Hauptmann Ewald v. Ogorin. Sie hatte von ihm
sowohl durch die Baronin, als auch durch den Major
so viel gehört, daß sie mit einer gewissen Spannung
feinem ersten Besuch entgegensah. Er ließ lange auf
sich warten, so lange, daß die Baronin saft besorgt
wurde, er könne vielleicht krank sein, da er fchon saft
acht Tage sich nicht hatte sehen lassen, während er doch
sonst wöchentlich mindestens zwei- bis dreimal, wenn
auch nur auf ein Viertelstündchen, die alte Tante be-
suchte.
Eines Abends, es war in der Dämmerstunde, saß
Helene am Pianino, sie hatte eben gesungen und
wendete sich zu der Baronin, um diese zu fragen,
ob sie noch ein Lied singen solle, da erblickte sie
hinter ihrem Stuhl einen fremden Offizier, der in
das Zimmer getreten war, ohne daß sie es gehört
hatte. Sie wußte, daß der Fremde, welcher sie mit
einem eigentümlich prüfenden Blick, der ihr das
Herz beben machte, betrachtete, der lang erwartete
Ewald v. Ogorin sei, cs bedurfte nicht der Vor-
stellung, die von der Baronin fast mit denselben
Worten, wie bei dem Major erfolgte.
War es nicht, als ob ein finsterer Zug das ernste
Gesicht Ewald's verdüstere, als er die Worte: „Meine
liebe Tochter Helene" hörte? Sein dunkles Auge hef-
tete sich mit einem Ausdruck mißtrauischen Forschens
auf das junge Mädchen, welches sich verlegen bei der
Vorstellung verbeugte, während er sie mit einer kaum
der gewöhnlichen Höflichkeit genügenden Verbeugung
begrüßte. Dann wendete er sich, ohne Helene weiter
zu beachten, zu der Tante, er setzte sich auf den Lehn-
stuhl neben das Sopha und fragte in teilnehmendem
Tone, wie es der Tante in den acht Tagen, während
er sie nicht gesehen, ergangen sei, er fügte entschuldigend
hinzu, daß er leider theils durch den Dienst, theils
durch dringende anderweitige Arbeiten verhindert wor-

Hcft 5.
den sei, ihr früher den gewohnten Besuch zu machen.
Helene schien für ihn gar nicht vorhanden zu sein.
Die Baronin fühlte sich durch diese Nichtbeachtung
Helenens verletzt, gegen den Major würde sie ihrem
Gefühle in scharfen, verweisenden Worten Ausdruck
gegeben haben, das aber wagte sie Ewald gegenüber
nur durch eine Andeutung zu thun. „Ich habe Dich
recht schmerzlich vermißt," antwortete sie ihm. „Ich
hatte mich sehr darauf gefreut, Dir meine liebe Helene
vorstellen zu können. Sie singt alle Deine Lieblings-
lieder, Ewald, und so wundervoll! Nun, Du hast ja
das eine gehört. Wie herrlich muß Deine Stimme
zu der ihrigen Passen! Ein Duett von Euch Beiden zu
hören wird mir die größte Freude sein."
„Für eine Künstlerin," erwiederte Ewald, „ist es
kein Vergnügen, ein Duett mit einem Dilettanten, wie
ich es bin, einzustudiren, und eine Künstlerin ist, wie
ich aus dem einen Lied gehört habe, Fräulein Müller,"
er betonte den bürgerlichen Namen Müller scharf mit
einem eigenen Ausdruck, dann fügte er hinzu: „Ich
hoffe, ich habe mich nicht in dem Namen geirrt, Du
hast es bei der Vorstellung vergessen, ihn auszusprechen;
aber Vetter Ferdinand hat ihn mir genannt."
„Ich glaubte, daß dies kaum nöthig sei, da ich
Dir meine Helene als meine liebe Tochter vorstellte.
Ferdinand hat auf die gleiche Vorstellung sie fosort,
wie ich es im Geheimen wünschte, als Cousine Helene
begrüßt."
„Du mußt mir schon verzeihen, liebe Tante, wenn
ich mir den guten Vetter Ferdinand nicht in allen
Dingen zum Muster nehme," entgegnete Ewald lächelnd.
„Ich kann leider auf die Ehre, Fräulein Müller als
Cousine zu begrüßen, keinen Anspruch erheben, da, so-
viel ich weiß, zwischen den Familien Ogorin und
Müller kein verwandtschaftliches Verhältniß besteht."
Lag in diesen Worten eine absichtliche Kränkung,
die stolze, harte Zurückweisung eines Anspruchs, den
Helene nie erhoben hatte? Fast schien es ihr so, eine
scharfe Antwort schwebte ihr auf der Zunge, aber sie
unterdrückte dieselbe. Der Anspruch, den sie nicht er-
hoben hatte, lag ausgedrückt in den Worten der Ba-
ronin und er befand sich in seinem guten Recht, als er
ihn zurückwies.
„Weißt Du so genau, daß zwischen Dir und Helene
keine Verwandtschaft besteht?" fragte die Baronin er-
regt. „Würde ich sie meine Tochter nennen, wenn —"
sie unterbrach sich, sie hatte im Eifer schon zu viel
gesagt und jetzt wußte sie nicht, wie sie den Satz voll-
enden sollte; ein Zufall kam ihr zu Hilfe. Der alte
Walter meldete die Frau Gräfin v. Reiningen, eine
der Baronin nur oberflächlich bekannte Dame, die er
in den Salon geführt hatte, in welchem die Baronin
stets Visiten zu empfangen pflegte.
Ewald erhob sich, er wollte Abschied nehmen; aber
die Baronin hielt ihn zurück. Mit einer Weichheit
und Milde im Tone, welche sie vor Helenens Eintritt
in ihr Haus selten gehabt hatte, sagte sic: „Wir dürfen
so nicht von einander scheiden, Ewald, nicht nach bittern
Worten, die immer ihren Stachel zurücklassen, wenn sie
vor dem Abschied gesprochen werden. Der Besuch der
Gräfin Reiningen wird mich nur wenige Minuten in
Anspruch nehmen. Sie kommt nur dann zu mir,
wenn sie für irgend einen der Vereine, in denen sie
Vorstandsdame ist, eine Unterstützung von mir zu haben
wünscht; sobald sie das Geld empfangen hat, geht sie.
In spätestens fünf Minuten bin ich wieder hier, ich
hoffe, wenn ich zurückkehre, wirst Du Dich mit Helene
über irgend ein Lied verständigt haben, welches Du
mit ihr singen willst. Du hast ja sonst immer Ver-
alten Tante gern eine Freude gemacht und wirst es
auch diesmal thun. Nicht Wahr, ich finde Dich noch,
wenn ich zurückkomme?"
Sie wartete eine Antwort nicht ab, sich auf den
Arm Walter's stützend verließ sie das Zimmer, um
den ihr in diesem Augenblick gar nicht unwillkommenen
Besuch zu empfangen.
Ewald trat zu Helene, die noch immer am Pianino
stand, und um ihre Verlegenheit zu verbergen in den
Noten blätterte. „Sie haben den Wunsch meiner
Tante gehört, Fräulein Müller, sind Sie bereit, ihn
zu erfüllen?" fragte er.
„Wenn ich einen Wunsch der Mama erfüllen kann,
werde ich das immer mit Freuden thun."
Helene hatte sich schon so sehr daran gewöhnt,
die Baronin Mama anzureden und von ihr als von
der Mama zu sprechen, daß ihr diese vertrauliche
Bezeichnung ganz natürlich erschien, nicht so aber
erschien sie Ewald. Er hatte allerdings von dem
Major, dem er am Tage vorher zufällig wieder
begegnet war, gehört, daß die neue Gesellschafterin von
der Tante Helene ganz wie eine Tochter behandelt
werde, trotzdem aber hatte ihn doch fchon die Vor-
stellung „meine liebe Tochter Helene" sehr unangenehm
berührt, und als jetzt dieses bürgerliche Mädchen, die
bezahlte Gesellschafterin und Pflegerin, sich herausnahm,
von der Baronin v. Merzbach schlechtweg als von
der Mama zu sprechen, empörte ihn eine solche An-
maßung.
 
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