Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 20.1885

DOI Heft:
Heft 5
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.61341#0101
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext



Alls höheren lltgimitll.
R o m a n
von
2ldolph Streckfnß.
looUsNznng.) ^Nnchdrnck verboten.)
ie sehen, Herr Geheimrath," sagte die
Baronin mit einer so heiteren Miene, wie
sie seit vielen Jahren nicht gezeigt hatte,
zu dem Arzte, „daß ich meinen Vorsah
ausgeführt habe; ich versprach Ihnen, daß
ich meine Helene nicht wie eine Fremde,
sondern wie eine Tochter betrachten wollte. Ich habe
Wort gehalten."
„Allerdings, gnädige Frau," erwie-
derte Geheimrath Ritter, „und zwar in
einem Umfange, der mich ebenso über-
rascht, wie erfreut."
„Was ich thue, Pflege ich voll und
ganz zu thun. Helene hat in meinem
Hause und in meinem Herzen ganz die
Stellung, die der geliebten Tochter ge-
bührt. Sie ist meine Tochter, und ich
werde die Rechte, die sie als solche be-
sitzt, Vertheidigen gegen Jeden, der es
versuchen sollte, sie zu verletzen."
„Ein vortrefflicher Vorsatz, den Sie,
gnädige Frau, gewiß mit der Ener-
gie durchführen werden, welche Ihnen
stets eigen gewesen ist und für welche
Ihnen Fräulein Helene, davon bin ich
überzeugt, durch wahre Tochterliebe dan-
ken wird. Für mich, ich spreche hier nicht
nur als Ihr alter Hausfreund, sondern
mehr noch als Ihr Arzt, ist es eine
wahre Genugthuung, daß sich so schnell
ein so schönes Verhältniß zwischen Ihnen
und der jungen Dame entwickelt hat.
Ihre körperlichen Leiden sind wesentlich
eine Folge der trüben Stimmung, die Sie
bedrückte, für Sie gibt es keine bessere
Arznei, als eine heitere Unterhaltung,
welche die trüben Gedanken verscheucht.
Dazu wird Fräulein Helene durch ihr
schönes musikalisches Talent wesentlich
beitragen, besonders wenn Sie dafür
sorgen, daß dasselbe noch weiter aus-
gebildet wird."
„Wollen Sie damit sagen, ich solle
Helene noch weiteren Unterricht in der
Musik ertheilen lassen? Sie singt und
spielt so vortrefflich, daß mir dies kaum
nöthig erscheint."
„Ich will Ihnen keinen Rath ertheilen,
den Sie nicht fordern. Es wäre mir über-
haupt nicht eingefallen, auch nur eine der-
artige Andeutung zu äußern, wenn Sie
nicht ausdrücklich erklärt hätten, Fräulein

Helene solle ganz die Stellung einer Tochter in Ihrem
Hause einnehmen. Wäre Fräulein Helene wirklich Ihre
Tochter, dann würden Sie natürlich ihr schönes Ta-
lent zur höchsten Ausbildung bringen; aber es wäre
ein Unrecht, Ihnen dies zumuthen zu wollen, denn nur
Unterrichtsstunden bei unseren besten Lehrern können
der jungen Dame noch Nutzen bringen, und diese Un-
terrichtsstunden sind enorm theuer."
Die Baronin fuhr bei diesen Worten Plötzlich in
die Höhe, sie schaute den Geheimrath, der sehr behäbig
in seinem Lehnstuhl saß und zu ihr sprach, ohne sic
anzusehen, mit funkelndem Blick an. „Sic scheinen
mich doch noch wenig zu kennen, Herr Geheimrath,"
sagte sie empfindlich, „wenn Sie glauben, der Preis
der Stunden könne irgend einen Einfluß auf meine
Entschließung haben. Helene, mein liebes Kind,
würde es Dir Freude machen, noch einmal Ge-

sanguntcrricht, natürlich bei dem besten Lehrer zu
nehmen?"
Welche herrliche Aussicht bot sich Helene! Ihr
höchster Wunsch, das Ziel ihres Strebens, ihre größte
Sehnsucht war dieser Unterricht, den sie aus Mangel
an Mitteln hatte unterbrechen müssen, und jetzt winkte
ihr Plötzlich die Aussicht, ihn wieder beginnen zu kön-
nen. Aber einen solchen Wunsch auszufprechen, wäre
doch zu unbescheiden gewesen, sie durfte die Güte der
alten Dame nicht mißbrauchen.
Der Gehciiurath, der sie lächelnd anschaute, errieth
ihre Gedanken, er schnitt ihr das Wort ab, indem er
ganz harmlos sagte: „Wie können Sie glauben, gnä-
dige Frau, daß "Fräulein Helene einen so unbescheide-
nen Wunsch äußern wird?"
„Es bedarf keines Vermittlers zwischen mir und
meiner Tochter," entgegnete die Baronin, die Ein-
mischung des Geheimraths scharf zurück-
weisend; dann zu Helene gewendet fuhr
sie fort: „Ich verlange ein einfaches Ja
oder Nein von Dir, mein Kind. Du
hast mich als Deine Mutter zu lieben
und mir zu vertrauen! Würdest Dn
zögern, Deiner Mutter zu antworten,
wenn sie Dich fragt, ob es Dir Frendc
machen würde, Gesangnnterricht zu
nehmen?"
„Es würde mich sehr, sehr glücklich
machen, aber —"
„Kein Aber! Meine Tochter soll einen
so leicht zu erfüllenden, so gerechtfertigten
Wunsch nicht durch ein Aber beschränken!"
Die Baronin liebte es, gefaßte Be-
schlüsse sofort zur Ausführung zn bringen;
sic forderte den Rath des Gcheimraths,
welchen Lehrer sie für ihre Tochter wäh-
len solle; er nannte den Namen desselben
berühmten Professors, bei welchem Helene
schon früher kurze Zeit Unterricht gehabt
hatte; an diesen Herrn schrieb die Ba-
ronin sofort ein kurzes, aber inhältreiches
Briefchen, welches der Geheimrath Per-
sönlich zn besorgen versprach.
Schon am Nachmittage desselben Ta-
ges hatte Helene die erste Unterrichts-
stunde bei dem berühmten Professor, der
sich in überschwänglichen Worten glück-
lich pries, daß ihm einer seiner größten
Wünsche erfüllt worden. Es hätte ihn
tief geschmerzt, eine so hochbefähigtc
Schülerin zu verlieren, nichts thun zu
können, nm eine so wunderbare Stimme
zur weiteren Ausbildung zn bringen,
um so glücklicher sei er jetzt, und dafür
bringe er sogar das -Opfer, den Unter-
richt nicht im eigenen Hause, sondern
im Hanse der Baronin zu ertheilen, was
eigentlich ganz gegen seine Grundsätze sei.
Daß die Baronin ihn: ein Honorar ge-
währte, wie es keine andere Schülerin
ihm zahlte, erwähnte er nicht, von

UM

Viktor Netzler.
Nach einer Photographie gezeichnet von C. Kolb. (S. 103)
 
Annotationen