Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 20.1885

DOI Heft:
Heft 20
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.61341#0449
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext


1885.





das kleine

Auf Hohen-Moor.
Novelle
von
Claire v. tvlümer.
(F°r,schn»g^
nzwischcn saß Jobst Clamor in seinem
Zimmer am Schreibtische. Er hatte ver-
gebens zu schlafen versucht, war wieder aus-
gestanden und schrieb, der wachsenden Kälte
nicht achtend, einen Brief. Ihm gegen-
über stand eine Photographie, die sonst nicht
in seinem Zimmer zu sehen war, das Bild einer Frau
mit einem etwa halbjährigen Kinde auf dem Schoße.
Mit großen, schönen, ernsten Augen sah
Geschöpf dem Beschauer entgegen, während
die Frau auf den ersten Blick mit ihrer
kleinen, allzu schlanken Gestalt, ihren un-
regelmäßigen Zügen, ihren von schweren
Lidern halb verhüllten Augen ebenso reiz-
los wie unbedeutend erschien. Aber bei
näherer Betrachtung verriethen Mund und
Kinn große Energie, die Haltung des Kopfes
großes Selbstgesühl, die Augen Klugheit
und scharfes Beobachten. Dazu wußte
Jobst Clamor, in wie hohem Grade ihrem
Blick und Lächeln jenes Aufleuchten eigen
war, das bezaubernder wirken kann, als
immer gleiche Schönheit; er wußte, wie
klangvoll ihre Stimme, wie melodisch ihr
Lachen, wie anmuthig ihre Bewegungen
waren. Ihm erschien sie noch heute wie
seit Jahren der Inbegriff des Guten, Fesseln-
den, Interessanten, und mit liebevollen:
Blick wieder und wieder zu ihr hinüber-
sehend, schrieb er:
„Schloß Hohen-Moor, 6. Januar.
Eigentlich am 7., denn es ist vier Uhr
Morgens. Der widrige Nachklang einer
Unterredung mit meinem Vater läßt mich
nicht zur Ruhe kommen, und wie immer,
wenn ich mich verletzt und mißverstanden
fühle, flüchte ich zu Dir, mein geliebtes
Weib, mein treuer Kamerad!
Daß ich es heute nur schriftlich thue,
statt in Deine Arme zu eilen, mag Dir
beweisen, wie ich Deiner Mahnungen ein-
gedenk bin und wie sehr es mir selbst am
Herzen liegt, nichts zu versäumen, was
Dir und unserem geliebten Kleinen die
Thüre meines Vaterhauses zu erschließen
vermöchte. Leider habe ich wenig Hoffnung,
dies Ziel schon jetzt zu erreichen, muß
vielmehr Dich wie mich selbst eindring-
licher als je zur Vorsicht und Geduld er-
mahnen. .Alles läßt sich erringen, wenn
man zu warten versteht/ sagt Talleyrand.
Auch wir, liebste Regine, haben — wenn

genossin. Anstatt also — wie ich es leider im ersten
Augenblick gethan habe — meinen Vater durch Wider-
spruch zu erbittern, werde ich suchen, durch geschicktes
Laviren Zeit zu gewinnen und diese nach Kräften dazu
benützen, Schön-Evy und deren Vetter Wulf in ihren
Herzenswünschen zu bestärken. Mein Vater, der Evy
unglaublich verzogen hat, wird ihren Bitten sicher nicht
widerstehen, wird für seine Person gern bereit sein, die
pekuniären Opfer zu bringen, die uothwendig sind, um
die Heirath mit dem völlig mittellosen Wulf möglich
zu machen, und wird es mir danken, wenn ich mich
verpflichte, für den Fall seines Todes die von ihm ge-
troffenen Bestimmungen aufrecht zu halten.'
Am liebsten würde ich mein Anrecht an das Ma-
jorat Vetter Wulf überlassen — natürlich gegen eine,
für den Fall, daß ich stürbe, auf Dich zu übertragende
Rente, durch die uns eine sorgenfreie Existenz gesichert
und mir die Möglichkeit gegeben wäre, den Ertrag
meiner Arbeiten für unseren Heinz aufsum-
men zu lassen. Wie Du weißt, hat das
geliebte Kind, als Sohn einer .Nichtgebore-
nen', keinen Anspruch auf den Besitz des
Majorats. Unter diesen Verhältnissen ist
es meine Pflicht, das mir verliehene Ta-
lent nicht nur um seiner selbst willen und
zu meiner eigenen Befriedigung auszu-
bilden, sondern auch es für die Meinigen
nutzbar zu machen; in Hohen-Moor würde
ich jedoch kaum dazu im Stande sein, selbst
wenn ich die Verwaltung der Feld- und
Forstwirthschaft in andere Hände legte. Es
ist etwas in der hiesigen Atmosphäre, das
kältend und lähmend auf mich einwirkt,
und zwar abgesehen davon, daß ich in dem
hiesigen Familienkreise für mein Streben,
meine Interessen, meine Lebensanschauung
weder Verständniß noch Sympathien finde.
War mir ja schon als Knabe das
alte, düstere Schloß verhaßt, begann doch
mit Hohen-Moor für mich das neue,
traurige Leben; meines Vaters Trübsinn
und wachsende Härte sowohl, wie meine
Verweisung in die Kinderstube, unter die
Obhut von Miethlingen, die noch dazu
nur widerwillig ihre Pflicht erfüllten;
mein Vater und ich waren in ihren Augen
unberechtigte Eindringlinge — zum Theil
sind sie noch heute dieser Ansicht. Auch
die beiden Vettern, Wulf und Hans, Pflege-
kinder des verstorbenen Majoratsherrn, tru-
gen zu meinem Unbehagen bei. Wulf, um
zwei Jahre älter als ich, ein schöner, kräf-
tiger Knabe, verlangte von seinem Bruder
wie von mir eine Unterordnung, in die ich
mich nur widerstrebend fügte. Aber ich
that es, denn ich fürchtete mich vor dem
unbändigen Gesellen mit den derben Fäusten
und der mächtigen Stimme, während
mir sein Bruder Hans, der mit mir im
gleichen Alter war, lange Zeit eine Art
mitleidigen Grauens einflößte.

wir nicht Alles auf immer verscherzen wollen — einen
günstigeren Zeitpunkt für unser Geständnis; zn erwarten.
Mein Vater hat nämlich die Absicht, mich mit
meiner Cousine, der Tochter des ehemaligen Majorats-
herrn, zu verheirathen. Ich erzählte Dir, daß derselbe
kurz vor der Geburt dieser Tochter, seines ersten Kin-
des, auf der Jagd verunglückt ist. Der Mannesstamm
der älteren Linie Derer von Hohen-Moor war mit ihm
erloschen, ihre Besitzungen fielen meinem Vater zu, der
nun die enterbte Tochter seines Vorgängers durch die
Verbindung mit mir schadlos halten will. Ein edler
Beweggrund, den ich vollkommen anerkenne, leider nur
hat meiu Vater außer Acht gelassen, daß er nicht mit
Schachfiguren, sondern mit Menschen operirt, und so
bin ich es denn nicht allein, der sich seinem Plane
widersetzt, auch meine Cousine Evy hat, wenn mich
nicht Alles täuscht, bereits über ihr Herz verfügt, und
wird dadurch zu unserer besten, nützlichsten Bnndes-

«ir Edward B. Malet, englischer Botschafter in Berlin.
Nach einer Photographie gezeichnet von C. Kolb. (S. 463)
 
Annotationen