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vollendet hatte, „Sic sagten mir, daß die Einbrecher
außer einer beträchtlichen Summe baaren Geldes auch
eine Mappe mit Ihnen sehr werthvollen Familien-
papieren geraubt haben. Kann irgend Jemand, viel-
leicht ein Verwandter von Ihnen oder Ihrem ver-
storbenen Herrn Gemahl, oder irgend ein Fremder, der
etwa einen Prozeß mit Ihnen geführt hat, ein Inter-
esse daran haben, diese Papiere zu besitzen oder auch
vielleicht nur, sie kennen zu lernen?"
„Nein, diese Papiere haben für keinen anderen
Menschen auf der Welt, außer für mich, den geringsten
Werth oder das geringste Interesse! Für mich sind sie
unschätzbar, ein unersetzlicher Verlust, für jeden Anderen
Völlig werthlos."
Die fo bestimmt gegebene Antwort überraschte offen-
bar den Kriminalkommissar, er hatte etwas An-
deres erwartet, aber er äußerte dies nicht, er bat nur
um die Erlaubniß, auch Fräulein Müller und die
Dienstboten des Hauses zu hören und außerdem die
Wohnung, das aufgebrochene Bureau, den Balkon, den
Vorgarten, Hof und Garten des Hauses genau besich-
tigen zu dürfen; als die Baronin bereitwillig diese
Erlaubniß gab, bat er mit größter Höflichkeit Fräu-
lein Müller, ihm zu erzählen, was sie erlebt und ge-
sehen habe, und mit gespannter Aufmerksamkeit lauschte
er ihrer einfachen und klaren Darstellung, die er mit
keinem Wort, mit keiner Frage unterbrach. Als Helene
zu Ende war, erhob er sich, er dankte der gnädigen
Frau und dem gnädigen Fräulein sehr verbindlich und
erklärte, er wolle weder der Frau Baronin, die ja
ohnehin angegriffen durch die Vorgänge der Nacht sei,
noch Fräulein Müller zumuthen, der Vernehmung der
Dienstboten beizuwohnen, er werde sich, wenn dieselbe
beendet sei, erlauben, über das Resultat Bericht zu er-
statten.
Die Baronin war dem Kriminalkommissär sehr
dankbar für eine so liebenswürdige Rücksichtnahme, sie
rief durch ein Läuten der Glocke den alten Walter und
befahl ihm, Herrn v. Welser die sämmtlichen Be-
diensteten des Hauses vorzustellen, ihn auch im Hause
umherzusühren, ihm zu zeigen, was er irgend sehen
wolle, ihm jede gewünschte Auskunft zu geben, kurz
ganz zu seinem Befehle zu sein.
„Ein liebenswürdiger Mensch, ein echter Cavalier,"
sagte sie, dem stattlichen Mann mit einem Blick voll
Wohlwollen nachschauend. „Er verleugnet es auch als
Kriminalbeamter nicht, daß er früher Offizier gewesen
ist. Ich freue mich, daß in seine Hände diese häß-
liche Untersuchung gelegt worden ist, ich hoffe, er wird
sie mit der größten Diskretion und Rücksichtnahme
führen!"
Helene antwortete nicht, sic hatte nicht ganz den-
selben Glauben. Es war ihr aufgefallen, daß der
höfliche Mann sie oft recht forschend, ja wie es ihr
schien mit einem Ausdruck fast des Mißtrauens im
Blick angeschaut hatte; gerade seine außerordentliche
Höflichkeit und Freundlichkeit erregte ihr ein unbeque-
mes Gefühl, über dessen Grund sie sich keine Rechen-
schaft geben konnte.
Mit großer Spannung erwarteten die Baronin und
Helene die Rückkunft des Kriminalkommissärs; aber
die Zeit wurde ihnen lang, er mußte wohl bei seinen
Vernehmungen und Untersuchungen sehr gründlich zu
Werke gehen, da war es denn eine recht angenehme
Unterbrechung des langweiligen Wartens, daß der
Hauptmann Ewald v. Ogorin kam, um der Tante
einen Besuch zu machen. Der Geheimrath Ritter hatte
ihn ausgesucht und ihm von dem Einbruch erzählt,
ihm mitgetheilt, daß dieser die Tante schwer erschreckt
habe, da war er denn voll Theilnahme sofort herbei-
geeilt, um sich persönlich zu erkundigen, wie es ihr er-
gehe.
Die Baronin war über seinen unerwarteten Besuch
hoch erfreut. Ihm, ihrem Liebling, konnte sie doch
frei ihr ganzes Herz ausschütten! Ihm in enthusiasti-
schen Worten zu erzählen, daß ihre Helene ihr mit
eigener Lebensgefahr so tapfer und muthig zu Hilfe
geeilt sei und sie vor dem jammervollen Erstickungs-
tode gerettet habe, war ihr eine besondere Freude, und
es erfüllte sie mit Wonne, als sie bemerkte, mit welcher
Bewunderung Ewald das schöne erröthende Mädchen
anschaute, als er ihr in warmen Worten seinen Dank
aussprach.
Auch gegen Ewald äußerte die Baronin ihren
Wunsch, daß eine Kriminaluntcrsuchung wegen dcS
Einbruches nicht eingeleitet werde, davon aber wollte
er nichts hören.. Es sei Pflicht, so erklärte er, die
Verbrecher zu verfolgen, und wenn es irgend möglich
sei, sie zur Strafe zu bringen. Nicht an die eigene
Bequemlichkeit, nicht an die Unannehmlichkeiten eines
gerichtlichen Prozesses, eines Auftretens als Zeugin
dürfe die Tante denken, nur daran, daß die Bestrafung
eines solchen Verbrechens im Interesse des Rechtes er-
folgen müsse. Als er hörte, daß der Kriminalkom-
missär v. Welser die Untersuchung leite, war er
hocherfreut.
„Da ist sie in der rechten Hand!" sagte er. „Ich
kenne Welser seit vielen Jahren, er war mein älterer
Das Buch für Alle.
Regimentskamerad. Er hat seinen Abschied genommen
und ist in dcn Civildienst getreten, weil er ein armes Mäd-
chen heirathen wollte. Wie er damals als Ehrenmann
gehandelt hat, wie er eine ihm offenstehende glänzende
Laufbahn geopfert hat, um seinem Worte treu eine
Pflicht zu erfüllen, so ist er ein Ehrenmann auch im
Polizeidienst geblieben. Es ist bekannt, daß er stets
mit höchster Humanität in seinem schwierigen Beruf
handelt, daß er aber nie zögert, seine Pflicht zu er-
füllen, und daß ihn niemals eine persönliche Rücksicht-
nahme von derselben abwendig machen kann."
Ein solches Wort aus Ewald's Munde galt viel
bei der Baronin, und sie empfing daher den Kriminal-
kommissär mit erhöhter Freundlichkeit und Zuvor-
kommenheit, als er nach langem Ausbleiben zurück-
kehrte, um über das Resultat seiner Nachforschungen
zu berichten; auch Ewald begrüßte ihn als alten Be-
kannten in sehr freundschaftlicher Weise.
Herr v. Welser zeigte eine sehr ernste Miene, aber
sie hellte sich auf, als er mit Ewald einen Händedruck
austauschte.
„Das ist eine freudige Ueberraschung, Herr v. Ogo-
rin," sagte er herzlich. „Ich hatte vergessen, daß
Sie ein naher Verwandter der Frau Baronin v. Merz-
bach sind, und daß Sie daher ein Recht und eine
Pflicht haben, mich mit Rath und That zu unterstützen
bei einer Untersuchung, die vielleicht eine viel größere
Bedeutung hat, als die gnädige Frau anzunehmcn
scheint und ich selbst es glaubte. Darf ich Sie um
eine kurze Unterredung unter vier Augen bitten?"
„Was haben Sie entdeckt? Sie machen mich be-
sorgt!"
„Das war nicht meine Absicht, gnädige Frau," er-
wiederte der Kriminalkommissär der Baronin freund-
lich. „Ich wünsche im Gcgentheil, gerade um Ihnen
eine vielleicht unnöthige Sorge zu ersparen, eine kurze
Unterredung mit Herrn Hauptmann v. Ogorin und
bitte, mir dieselbe zu gestatten."
Die Baronin antwortete nicht, Ewald aber erklärte
sich bereit, dem Wunsche des Kriminalkominissärs
nachzukommen und folgte diesem nach dem Salon.
„Ich befinde mich in einer eigenthümlichen Ver-
legenheit," so begann der Kriminalkommissär das
Gespräch. „Als mir heute Morgen die Meldung ge-
macht wurde, bei der Frau Baronin v. Merzbach sei
in der Nacht ein frecher Einbruch verübt worden, die
Einbrecher hätten sogar einen Mordversuch gegen die
alte Dame gemacht, seien aber glücklicherweise über-
rascht worden, glaubte ich, daß es sich hier um ein
gewöhnliches Verbrechen, wie sie in unserer Stadt fast
täglich Vorkommen, handle. In einem solchen Fall
hat im Interesse der öffentlichen Sicherheit die Krimi-
nalpolizei die Pflicht, einzuschreiten, wenn möglich die
Verbrecher zu entdecken und zur Strafe zu bringen,
auch wenn der Beraubte und an seinem Leben Bedrohte
dies nicht wünscht. Es ist dagegen weder die Pflicht,
noch das Recht der Behörde, sich einzudrängen in Fa-
uülienverhältnisse, Familiengeheimnisse zu erforschen,
wenn dies nicht durch ein höheres, allgemeines Inter-
esse geboten wird. Das allgemeine Interesse erfordert die
Entdeckung und Bestrafung eines gemeinen Verbrechens,
der Pflicht, zu diesem Zwecke thätig zu sein, werde ich
mich daher nicht entziehen können, obgleich ich- dadurch
sehr gegen meinen Wunsch gezwungen werde, viel-
leicht eindringen zu müssen in Familienverhältnisse,
welche ein Geheimniß bleiben sollten. Ich hielt es für
eine Ehrenpflicht, Ihnen dies zu sagen, Herr v. Ogorin,
ehe ich Sie um die Beantwortung einiger Fragen bitte.
Ich will Ihre Arglosigkeit nicht mißbrauchen. Sie
müssen wissen, welche Folgen Ihre Antworten mög-
licherweise haben können, um frei darüber zu entschei-
den, ob Sie mir überhaupt eine Antwort geben wollen
oder nicht. Daß Sie mir die volle Wahrheit sagen
werden, wenn Sie antworten, weiß ich, ich kenne Sie
ja als einen Ehrenmann, dessen Wahrheitstrcue über
jeden Zweifel erhaben ist; glauben Sie aber, daß Ihr
Familieninteresse, die Wahrung eines Familiengeheim-
nisses, durch Ihre Aussagen gefährdet wird, dann werden
Sie dieselben versagen."
„Sie setzen mich durch diese Vorrede in Erstaunen,
Herr v. Welser. Ich wüßte nicht, weshalb ich Ihnen
nicht jede Frage beantworten sollte, die Sie im Inter-
esse der Entdeckung eines nichtswürdigen Verbrechens
an mich richten wollen. In meiner Familie gibt es
nichts zu verschweigen oder zu verdecken, kein Fa-
miliengeheimniß, dessen Entschleierung mir Bcsorgniß
einflößen könnte. Fragen Sie also, ich werde ant-
worten."
„Auf jede Frage?"
„Auf jede."
„Dann erlauben Sie mir zuerst die Frage: steht
die junge Dame, welche polizeilich als Fräulein Helene
Müller, Gesellschafterin der Frau Baronin v. Merz-
bach, angemeldet ist, von Ihrer Frau Tante aber
,Tochter' genannt wird, in irgend einem verwandt-
schaftlichen Verhältniß zn Ihnen oder zu Ihrer Frau
Taute?"
„Nein, ich kenne sowohl den Stammbaum dcr
Heft 6.
Familie Ogorin, als der Familie Merzbach sehr genau.
Von einer Verwandtschaft mit Fräulein Müller kann
nicht die Rede sein."
„Wirklich nicht? Ist es Ihnen nicht ausgefallen,
daß Fräulein Müller eine außerordentliche Aehnlichkeit
mit Ihrer Frau Tante hat?"
Ewald blickte den Kriminalkommissär hoch er-
staunt an.
„Wahrhaftig, Sie haben Recht!" rief er. „Jetzt
weiß ich, worüber ich lange nachgesonneu. Ich glaubte
diese reizenden Züge schon früher gesehen zu haben,
aber ich wußte nicht wo und wann. Sie waren mir
lieb und vertraut, aber ich grübelte vergeblich nach,
„Solche Aehnlichkeit und doch keine Verwandt-
schaft?"
„Nein, sicherlich nicht!"
„Kennen Sie Fräulein Müller und deren Ver-
wandtschaft genauer und schon seit längerer Zeit?"
„Nein, sie ist mir ganz unbekannt. Ich habe die
junge Dame gestern zum ersten Mal in meinem Leben
gesehen und weiß von ihr nichts, als daß sie vor etwa
acht Tagen von einflußreicher Seite meiner Tante als
Gesellschafterin und Pflegerin empfohlen worden ist,
und daß sie sich wunderbar schnell die unbegrenzte
Liebe der alten Frau erworben hat, so daß diese sie
ganz als ihre Tochter betrachtet und behandelt."
„Wer hat die junge Dame empfohlen?"
„Mein Vetter, der Major v. Olsten, nannte mir
den geheimen Sanitätsrath Ritter, den Hausarzt und
alten Freund meiner Tante; ich aber habe einen an-
deren, allerdings durch keine Thatsachen begründeten
Verdacht."
„Sprechen Sie ihn aus, Herr v. Ogorin. Sie
dürfen, das versichere ich Ihnen auf mein Ehrenwort,
auf meine strengste Diskretion rechnen."
„Meine Tante hält viel von einem mir sehr zweifel-
haften Manne, und ich kann mich des Verdachtes nicht
erwehren, daß seine Empfehlung ihre höchst wunder-
bare, plötzlich erwachte Liebe für ein ihr bis vor acht
Tagen ganz fremdes bürgerliches Mädchen verursacht
hat. Der Mann wird Ihnen sicherlich dem Namen
nach bekannt sein, Professor Mondberger."
„Mondberger! Der Spiritist! Hier also kreuze
ich seine Spur! Es wird Zeit, ein aufmerksames Auge
auf diesen Herrn und sein Treiben zu richten! Fräulein
Müller empfohlen durch Herrn Professor Mondüerger!
Braucht er die junge Dame vielleicht als sein Me-
dium? Hat er sie als solches etwa der Frau Ba-
ronin vorgestellt?"
„Davon weiß ich nichts und ich glaube es nicht.
Meine Tante hat sie mir sogar als eine Ungläubige
bezeichnet, als sie mich gestern einlud, morgen Abend
einem spiritistischen Cirkel in ihrem Hause hier beizu-
wohnen."
„Thun Sie es, Herr v. Ogorin. Aber halten Sie
die Augen weit offen und achten Sie insbesondere dar-
auf, in welchem Verhältniß dieses schöne Fräulein
Müller zu dem famosen Professor Mondberger steht.
Beobachten Sie Beide auf das Schärfste. Sie werden
vielleicht dadurch Ihrer Frau Tante einen großen
Dienst erweisen, denn ich fürchte, sie befindet sich in
schlimmen Händen!"
„Sie glauben, daß Fräulein Müller ihr Vertrauen
mißbraucht?"
Der Kriminalkommissär zögerte mit der Antwort,
er ging schweigend neben Ewald mehrere Male tief
nachdenkend im Salon auf und nieder, dann endlich
sagte er: „Es gilt als ein Gesetz für den Kriminalisten,
daß er über das, was er im ersten Stadium einer
Untersuchung erfährt oder zu entdecken glaubt, unver-
brüchliches Schweigen beobachtet; auch ich habe cs
mir zum Grundsatz gemacht, dieses Gesetz zu beobachten;
wenn ich es trotzdem Ihnen gegenüber jetzt breche, ge-
schieht es, weil ich auf Ihren thatkrüftigen Beistand
hoffe, und Sie mir diesen nur leisten können, wenn
Sie genau informirt sind. Sie sollen deshalb das
Wenige hören, was ich über die Vorgänge dieser Nacht
in Erfahrung gebracht habe, und ich will Ihnen auch
nicht verschweigen, welchen Verdacht ich hege, selbst-
verständlich unter der Bedingung, daß Sie mir Jhr
Ehrenwort geben, über diese nur für Sie bestimmten
Mittheilungen gegen Niemand ein Wort zu äußern."
„Ich gebe cs."
„Das Thatsächliche über die Vorgänge der Nacht
haben Sie jedenfalls schon von Ihrer Frau Tante und
Fräulein Müller gehört."
„Ja."
„Es liegt mir also nur noch ob, Ihnen über das
Resultat meiner Nachforschungen zu berichten. Ich
habe die gesammte Dienerschaft vernommen und mir
von Allen einzeln ihre Erlebnisse und Eindrücke wäh-
rend der Nacht erzählen lassen. Von Bedeutung waren
ihre Aussagen nicht, sie haben ja sämmtlich von den
Einbrechern nichts gesehen. Sie stimmten überein in
der Bewunderung des Muthes und der ruhigen Be-
sonnenheit, welche Fräulein Müller gezeigt hat, wäh-
rend alle Anderen, auch die kräftigen 'Männer den
vollendet hatte, „Sic sagten mir, daß die Einbrecher
außer einer beträchtlichen Summe baaren Geldes auch
eine Mappe mit Ihnen sehr werthvollen Familien-
papieren geraubt haben. Kann irgend Jemand, viel-
leicht ein Verwandter von Ihnen oder Ihrem ver-
storbenen Herrn Gemahl, oder irgend ein Fremder, der
etwa einen Prozeß mit Ihnen geführt hat, ein Inter-
esse daran haben, diese Papiere zu besitzen oder auch
vielleicht nur, sie kennen zu lernen?"
„Nein, diese Papiere haben für keinen anderen
Menschen auf der Welt, außer für mich, den geringsten
Werth oder das geringste Interesse! Für mich sind sie
unschätzbar, ein unersetzlicher Verlust, für jeden Anderen
Völlig werthlos."
Die fo bestimmt gegebene Antwort überraschte offen-
bar den Kriminalkommissar, er hatte etwas An-
deres erwartet, aber er äußerte dies nicht, er bat nur
um die Erlaubniß, auch Fräulein Müller und die
Dienstboten des Hauses zu hören und außerdem die
Wohnung, das aufgebrochene Bureau, den Balkon, den
Vorgarten, Hof und Garten des Hauses genau besich-
tigen zu dürfen; als die Baronin bereitwillig diese
Erlaubniß gab, bat er mit größter Höflichkeit Fräu-
lein Müller, ihm zu erzählen, was sie erlebt und ge-
sehen habe, und mit gespannter Aufmerksamkeit lauschte
er ihrer einfachen und klaren Darstellung, die er mit
keinem Wort, mit keiner Frage unterbrach. Als Helene
zu Ende war, erhob er sich, er dankte der gnädigen
Frau und dem gnädigen Fräulein sehr verbindlich und
erklärte, er wolle weder der Frau Baronin, die ja
ohnehin angegriffen durch die Vorgänge der Nacht sei,
noch Fräulein Müller zumuthen, der Vernehmung der
Dienstboten beizuwohnen, er werde sich, wenn dieselbe
beendet sei, erlauben, über das Resultat Bericht zu er-
statten.
Die Baronin war dem Kriminalkommissär sehr
dankbar für eine so liebenswürdige Rücksichtnahme, sie
rief durch ein Läuten der Glocke den alten Walter und
befahl ihm, Herrn v. Welser die sämmtlichen Be-
diensteten des Hauses vorzustellen, ihn auch im Hause
umherzusühren, ihm zu zeigen, was er irgend sehen
wolle, ihm jede gewünschte Auskunft zu geben, kurz
ganz zu seinem Befehle zu sein.
„Ein liebenswürdiger Mensch, ein echter Cavalier,"
sagte sie, dem stattlichen Mann mit einem Blick voll
Wohlwollen nachschauend. „Er verleugnet es auch als
Kriminalbeamter nicht, daß er früher Offizier gewesen
ist. Ich freue mich, daß in seine Hände diese häß-
liche Untersuchung gelegt worden ist, ich hoffe, er wird
sie mit der größten Diskretion und Rücksichtnahme
führen!"
Helene antwortete nicht, sic hatte nicht ganz den-
selben Glauben. Es war ihr aufgefallen, daß der
höfliche Mann sie oft recht forschend, ja wie es ihr
schien mit einem Ausdruck fast des Mißtrauens im
Blick angeschaut hatte; gerade seine außerordentliche
Höflichkeit und Freundlichkeit erregte ihr ein unbeque-
mes Gefühl, über dessen Grund sie sich keine Rechen-
schaft geben konnte.
Mit großer Spannung erwarteten die Baronin und
Helene die Rückkunft des Kriminalkommissärs; aber
die Zeit wurde ihnen lang, er mußte wohl bei seinen
Vernehmungen und Untersuchungen sehr gründlich zu
Werke gehen, da war es denn eine recht angenehme
Unterbrechung des langweiligen Wartens, daß der
Hauptmann Ewald v. Ogorin kam, um der Tante
einen Besuch zu machen. Der Geheimrath Ritter hatte
ihn ausgesucht und ihm von dem Einbruch erzählt,
ihm mitgetheilt, daß dieser die Tante schwer erschreckt
habe, da war er denn voll Theilnahme sofort herbei-
geeilt, um sich persönlich zu erkundigen, wie es ihr er-
gehe.
Die Baronin war über seinen unerwarteten Besuch
hoch erfreut. Ihm, ihrem Liebling, konnte sie doch
frei ihr ganzes Herz ausschütten! Ihm in enthusiasti-
schen Worten zu erzählen, daß ihre Helene ihr mit
eigener Lebensgefahr so tapfer und muthig zu Hilfe
geeilt sei und sie vor dem jammervollen Erstickungs-
tode gerettet habe, war ihr eine besondere Freude, und
es erfüllte sie mit Wonne, als sie bemerkte, mit welcher
Bewunderung Ewald das schöne erröthende Mädchen
anschaute, als er ihr in warmen Worten seinen Dank
aussprach.
Auch gegen Ewald äußerte die Baronin ihren
Wunsch, daß eine Kriminaluntcrsuchung wegen dcS
Einbruches nicht eingeleitet werde, davon aber wollte
er nichts hören.. Es sei Pflicht, so erklärte er, die
Verbrecher zu verfolgen, und wenn es irgend möglich
sei, sie zur Strafe zu bringen. Nicht an die eigene
Bequemlichkeit, nicht an die Unannehmlichkeiten eines
gerichtlichen Prozesses, eines Auftretens als Zeugin
dürfe die Tante denken, nur daran, daß die Bestrafung
eines solchen Verbrechens im Interesse des Rechtes er-
folgen müsse. Als er hörte, daß der Kriminalkom-
missär v. Welser die Untersuchung leite, war er
hocherfreut.
„Da ist sie in der rechten Hand!" sagte er. „Ich
kenne Welser seit vielen Jahren, er war mein älterer
Das Buch für Alle.
Regimentskamerad. Er hat seinen Abschied genommen
und ist in dcn Civildienst getreten, weil er ein armes Mäd-
chen heirathen wollte. Wie er damals als Ehrenmann
gehandelt hat, wie er eine ihm offenstehende glänzende
Laufbahn geopfert hat, um seinem Worte treu eine
Pflicht zu erfüllen, so ist er ein Ehrenmann auch im
Polizeidienst geblieben. Es ist bekannt, daß er stets
mit höchster Humanität in seinem schwierigen Beruf
handelt, daß er aber nie zögert, seine Pflicht zu er-
füllen, und daß ihn niemals eine persönliche Rücksicht-
nahme von derselben abwendig machen kann."
Ein solches Wort aus Ewald's Munde galt viel
bei der Baronin, und sie empfing daher den Kriminal-
kommissär mit erhöhter Freundlichkeit und Zuvor-
kommenheit, als er nach langem Ausbleiben zurück-
kehrte, um über das Resultat seiner Nachforschungen
zu berichten; auch Ewald begrüßte ihn als alten Be-
kannten in sehr freundschaftlicher Weise.
Herr v. Welser zeigte eine sehr ernste Miene, aber
sie hellte sich auf, als er mit Ewald einen Händedruck
austauschte.
„Das ist eine freudige Ueberraschung, Herr v. Ogo-
rin," sagte er herzlich. „Ich hatte vergessen, daß
Sie ein naher Verwandter der Frau Baronin v. Merz-
bach sind, und daß Sie daher ein Recht und eine
Pflicht haben, mich mit Rath und That zu unterstützen
bei einer Untersuchung, die vielleicht eine viel größere
Bedeutung hat, als die gnädige Frau anzunehmcn
scheint und ich selbst es glaubte. Darf ich Sie um
eine kurze Unterredung unter vier Augen bitten?"
„Was haben Sie entdeckt? Sie machen mich be-
sorgt!"
„Das war nicht meine Absicht, gnädige Frau," er-
wiederte der Kriminalkommissär der Baronin freund-
lich. „Ich wünsche im Gcgentheil, gerade um Ihnen
eine vielleicht unnöthige Sorge zu ersparen, eine kurze
Unterredung mit Herrn Hauptmann v. Ogorin und
bitte, mir dieselbe zu gestatten."
Die Baronin antwortete nicht, Ewald aber erklärte
sich bereit, dem Wunsche des Kriminalkominissärs
nachzukommen und folgte diesem nach dem Salon.
„Ich befinde mich in einer eigenthümlichen Ver-
legenheit," so begann der Kriminalkommissär das
Gespräch. „Als mir heute Morgen die Meldung ge-
macht wurde, bei der Frau Baronin v. Merzbach sei
in der Nacht ein frecher Einbruch verübt worden, die
Einbrecher hätten sogar einen Mordversuch gegen die
alte Dame gemacht, seien aber glücklicherweise über-
rascht worden, glaubte ich, daß es sich hier um ein
gewöhnliches Verbrechen, wie sie in unserer Stadt fast
täglich Vorkommen, handle. In einem solchen Fall
hat im Interesse der öffentlichen Sicherheit die Krimi-
nalpolizei die Pflicht, einzuschreiten, wenn möglich die
Verbrecher zu entdecken und zur Strafe zu bringen,
auch wenn der Beraubte und an seinem Leben Bedrohte
dies nicht wünscht. Es ist dagegen weder die Pflicht,
noch das Recht der Behörde, sich einzudrängen in Fa-
uülienverhältnisse, Familiengeheimnisse zu erforschen,
wenn dies nicht durch ein höheres, allgemeines Inter-
esse geboten wird. Das allgemeine Interesse erfordert die
Entdeckung und Bestrafung eines gemeinen Verbrechens,
der Pflicht, zu diesem Zwecke thätig zu sein, werde ich
mich daher nicht entziehen können, obgleich ich- dadurch
sehr gegen meinen Wunsch gezwungen werde, viel-
leicht eindringen zu müssen in Familienverhältnisse,
welche ein Geheimniß bleiben sollten. Ich hielt es für
eine Ehrenpflicht, Ihnen dies zu sagen, Herr v. Ogorin,
ehe ich Sie um die Beantwortung einiger Fragen bitte.
Ich will Ihre Arglosigkeit nicht mißbrauchen. Sie
müssen wissen, welche Folgen Ihre Antworten mög-
licherweise haben können, um frei darüber zu entschei-
den, ob Sie mir überhaupt eine Antwort geben wollen
oder nicht. Daß Sie mir die volle Wahrheit sagen
werden, wenn Sie antworten, weiß ich, ich kenne Sie
ja als einen Ehrenmann, dessen Wahrheitstrcue über
jeden Zweifel erhaben ist; glauben Sie aber, daß Ihr
Familieninteresse, die Wahrung eines Familiengeheim-
nisses, durch Ihre Aussagen gefährdet wird, dann werden
Sie dieselben versagen."
„Sie setzen mich durch diese Vorrede in Erstaunen,
Herr v. Welser. Ich wüßte nicht, weshalb ich Ihnen
nicht jede Frage beantworten sollte, die Sie im Inter-
esse der Entdeckung eines nichtswürdigen Verbrechens
an mich richten wollen. In meiner Familie gibt es
nichts zu verschweigen oder zu verdecken, kein Fa-
miliengeheimniß, dessen Entschleierung mir Bcsorgniß
einflößen könnte. Fragen Sie also, ich werde ant-
worten."
„Auf jede Frage?"
„Auf jede."
„Dann erlauben Sie mir zuerst die Frage: steht
die junge Dame, welche polizeilich als Fräulein Helene
Müller, Gesellschafterin der Frau Baronin v. Merz-
bach, angemeldet ist, von Ihrer Frau Tante aber
,Tochter' genannt wird, in irgend einem verwandt-
schaftlichen Verhältniß zn Ihnen oder zu Ihrer Frau
Taute?"
„Nein, ich kenne sowohl den Stammbaum dcr
Heft 6.
Familie Ogorin, als der Familie Merzbach sehr genau.
Von einer Verwandtschaft mit Fräulein Müller kann
nicht die Rede sein."
„Wirklich nicht? Ist es Ihnen nicht ausgefallen,
daß Fräulein Müller eine außerordentliche Aehnlichkeit
mit Ihrer Frau Tante hat?"
Ewald blickte den Kriminalkommissär hoch er-
staunt an.
„Wahrhaftig, Sie haben Recht!" rief er. „Jetzt
weiß ich, worüber ich lange nachgesonneu. Ich glaubte
diese reizenden Züge schon früher gesehen zu haben,
aber ich wußte nicht wo und wann. Sie waren mir
lieb und vertraut, aber ich grübelte vergeblich nach,
„Solche Aehnlichkeit und doch keine Verwandt-
schaft?"
„Nein, sicherlich nicht!"
„Kennen Sie Fräulein Müller und deren Ver-
wandtschaft genauer und schon seit längerer Zeit?"
„Nein, sie ist mir ganz unbekannt. Ich habe die
junge Dame gestern zum ersten Mal in meinem Leben
gesehen und weiß von ihr nichts, als daß sie vor etwa
acht Tagen von einflußreicher Seite meiner Tante als
Gesellschafterin und Pflegerin empfohlen worden ist,
und daß sie sich wunderbar schnell die unbegrenzte
Liebe der alten Frau erworben hat, so daß diese sie
ganz als ihre Tochter betrachtet und behandelt."
„Wer hat die junge Dame empfohlen?"
„Mein Vetter, der Major v. Olsten, nannte mir
den geheimen Sanitätsrath Ritter, den Hausarzt und
alten Freund meiner Tante; ich aber habe einen an-
deren, allerdings durch keine Thatsachen begründeten
Verdacht."
„Sprechen Sie ihn aus, Herr v. Ogorin. Sie
dürfen, das versichere ich Ihnen auf mein Ehrenwort,
auf meine strengste Diskretion rechnen."
„Meine Tante hält viel von einem mir sehr zweifel-
haften Manne, und ich kann mich des Verdachtes nicht
erwehren, daß seine Empfehlung ihre höchst wunder-
bare, plötzlich erwachte Liebe für ein ihr bis vor acht
Tagen ganz fremdes bürgerliches Mädchen verursacht
hat. Der Mann wird Ihnen sicherlich dem Namen
nach bekannt sein, Professor Mondberger."
„Mondberger! Der Spiritist! Hier also kreuze
ich seine Spur! Es wird Zeit, ein aufmerksames Auge
auf diesen Herrn und sein Treiben zu richten! Fräulein
Müller empfohlen durch Herrn Professor Mondüerger!
Braucht er die junge Dame vielleicht als sein Me-
dium? Hat er sie als solches etwa der Frau Ba-
ronin vorgestellt?"
„Davon weiß ich nichts und ich glaube es nicht.
Meine Tante hat sie mir sogar als eine Ungläubige
bezeichnet, als sie mich gestern einlud, morgen Abend
einem spiritistischen Cirkel in ihrem Hause hier beizu-
wohnen."
„Thun Sie es, Herr v. Ogorin. Aber halten Sie
die Augen weit offen und achten Sie insbesondere dar-
auf, in welchem Verhältniß dieses schöne Fräulein
Müller zu dem famosen Professor Mondberger steht.
Beobachten Sie Beide auf das Schärfste. Sie werden
vielleicht dadurch Ihrer Frau Tante einen großen
Dienst erweisen, denn ich fürchte, sie befindet sich in
schlimmen Händen!"
„Sie glauben, daß Fräulein Müller ihr Vertrauen
mißbraucht?"
Der Kriminalkommissär zögerte mit der Antwort,
er ging schweigend neben Ewald mehrere Male tief
nachdenkend im Salon auf und nieder, dann endlich
sagte er: „Es gilt als ein Gesetz für den Kriminalisten,
daß er über das, was er im ersten Stadium einer
Untersuchung erfährt oder zu entdecken glaubt, unver-
brüchliches Schweigen beobachtet; auch ich habe cs
mir zum Grundsatz gemacht, dieses Gesetz zu beobachten;
wenn ich es trotzdem Ihnen gegenüber jetzt breche, ge-
schieht es, weil ich auf Ihren thatkrüftigen Beistand
hoffe, und Sie mir diesen nur leisten können, wenn
Sie genau informirt sind. Sie sollen deshalb das
Wenige hören, was ich über die Vorgänge dieser Nacht
in Erfahrung gebracht habe, und ich will Ihnen auch
nicht verschweigen, welchen Verdacht ich hege, selbst-
verständlich unter der Bedingung, daß Sie mir Jhr
Ehrenwort geben, über diese nur für Sie bestimmten
Mittheilungen gegen Niemand ein Wort zu äußern."
„Ich gebe cs."
„Das Thatsächliche über die Vorgänge der Nacht
haben Sie jedenfalls schon von Ihrer Frau Tante und
Fräulein Müller gehört."
„Ja."
„Es liegt mir also nur noch ob, Ihnen über das
Resultat meiner Nachforschungen zu berichten. Ich
habe die gesammte Dienerschaft vernommen und mir
von Allen einzeln ihre Erlebnisse und Eindrücke wäh-
rend der Nacht erzählen lassen. Von Bedeutung waren
ihre Aussagen nicht, sie haben ja sämmtlich von den
Einbrechern nichts gesehen. Sie stimmten überein in
der Bewunderung des Muthes und der ruhigen Be-
sonnenheit, welche Fräulein Müller gezeigt hat, wäh-
rend alle Anderen, auch die kräftigen 'Männer den