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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 20.1885

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Heft 9
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https://doi.org/10.11588/diglit.61341#0196
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Hch 9.

Das Buch für Alle.

195

spektvoll tief verbeugte, wie er dann dem Major v. Berg-
rath und dessen beiden Töchtern vorgestellt wurde, mit
ihnen einige Worte in ganz cavaliermäßiger Weise
wechselte, mit dem Major und dem Hauptmann v. Bork
einen freundschaftlichen Händedruck austauschte, um
daun fremd und vornehm, aber mit vollendeter Höf-
lichkeit, die bürgerlichen Herren und Damen der Gesell-
schaft, denen er sömmtlich vom Professor vorgestellt
wurde, zu begrüßen. Nichts erinnerte bei diesem Rund-
gang an die nachlässige Art, sich zu bewegen, welche
Helene bei ihrem Bruder kannte, und welche ihr stets
so unangenehm gewesen war.
Wieder erhoben sich Zweifel in ihr, sie konnte nicht
einig mit sich werden. War er es? War er es nicht?
Täuschte sie eine merkwürdige Aehnlichkeit, oder besaß
er wirklich ein so hervorragendes Talent, sich in die
Rolle eines jungen Edelmannes hineinzudenken und zu
fühlen, daß er sie mit solcher Naturwahrheit zu spielen
vermochte? „Jeder Zoll ein Edelmann!" so hatte die
Generalin gesagt, und sie hatte in der That nicht
sehr übertrieben.
Der Professor hatte die Vorstellung des Barons
vollendet, er wandte sich nun an die Generalin und
bot ihr den Arm, um sie nach dem Speisesaal zu
führen.
„Führen Sie das gnädige Fräulein," sagte er, sich
zu den: Barbn Severin wendend; dieser bot, sich tief
verbeugend, Helene den Arm, ihre Hand zitterte, als
sie dieselbe leicht auf seinen Arm legte.
„Sie beben, gnädiges Fräulein; das setzt mich nicht
in Erstaunen, denn, wie ich höre, sollen Sie heute zum
ersten Male die wunderreiche Verbindung irdischen und
überirdischen Lebens mit eigenen Augen schauen. Da
ist es freilich natürlich, daß ein Gefühl der Bangig-
keit, vielleicht sogar der Furcht in Ihnen erwacht;
aber Sie werden dasselbe bald verlieren! Ist es denn
nicht etwas Großes und Schönes, daß cs uns gestattet
ist, auch über den Tod hinaus mit unseren theuren
Verstorbenen in inniger Verbindung bleiben zu dürfen?
Der Tod verliert dadurch seine Schrecken, er ist ja
für uns keine Trennung von denen, die wir lieben!"
Er sprach ernst, ruhig, seine Stimme hatte einen
eigenen, Hetenen ganz fremden Ton. So konnte Fritz,
der niemals ernst zu sein vermochte, der über Alles
spöttelte, nicht sprechen. Sie blickte zu ihm auf, da
war es doch wieder Fritz, der sie für einen Moment
anscbaute niit den mattblauen, verschleierten Augen,
dann aber sofort den Blick abwcndete. Es war zum
Verzweifeln, sie tonnte nicht darüber in's Klare kommen.
15.
In dem Speiscsaal brannte die Gaskrone mit ihren
fünf Flammen gerade hell genug, um den weiten Raum
genügend zu erleuchten, sie warf ein intensives Licht
herab auf den unter ihr in der Mitte des Saales
stehenden langen, rechteckigen Tisch, der mit einer-
grünen Tuchdecke belegt war, die Wände des Zimmers
aber waren, besonders die entferntesten, nicht genügend
beleuchtet, um die Familienbilder, die an denselben
aufgehängt waren, genau erkennen zu können.
Rings um den Lisch stand eine Reihe von Sesseln,
auf dem Tisch lagen mehrere Weiße Bogen Papier und
eine Anzahl von Bleistiften, sonst waren keine Vor-
bereitungen getroffen, welche darauf schließen ließen,
daß irgend etwas Besonderes in den: Saale vor-
genommen werden solle; dieser grüne Tisch mit den
Papierbogcn darauf machte einen nüchternen, geschäfts-
mäßigen Eindruck, nichts deutete darauf hin, daß die
um ihn Versammelten im Begriff standen, mit der
Geisterwelt in Verkehr zu treten.
Der Professor führte die Generalin zu einem Sessel
am oberen schmalen Ende des Tisches, er selbst stellte
sich hinter einen anderen Sessel, dem Baron Severin
deutete er durch einen Wink an, daß der Sessel neben
dein seinigen für ihn bestimmt sei; Helene, welche der
Baron führte, erhielt den Platz neben demselben; die
übrigen Mitglieder der Gesellschaft grnppirten sich, wie
es ihnen beliebte; wie cs schien, nahm Jedes einen
gewohnten Platz ein. Zwei Plätze blieben frei, ein
Sessel neben dem Helenens und ein bequemer Lehnstuhl
zwischen dem Platz, den der Professor einnähm, und
dem der Generalin. Der Major v. Ohlen schien nicht
übel Lust zu haben, den freien Platz neben dem He-
lenens zu dem seinigen zu machen, er hatte schon den
gewohnten Platz zwischen seiner Mutter und einem der
beiden Fräulein v. Bergroth verlassen, aber ein Wink
der Generalin und deren strenge, geflüsterte Weisung:
„Störe die gewohnte Ordnung nicht, Ferdinand!" rief
ihn zurück.
Noch hatte sich Niemand gesetzt, alle Anwesenden
standen hinter ihren Sesseln, sie erwarteten die Baronin;
jetzt öffnete der alte Walter die Flügelthüre nach dein
Wohnzimmer, und geführt von dem Hauptmann v.
Ogorin trat die Baronin in den Saal. Durch eine
Verneigung begrüßte sie die Versammelten, nur Alle
gemeinschaftlich, Keinen, selbst Excellenz Misthaufen
nicht, persönlich, Helenen allein nickte sie freundlich
lächelnd zu, als sie am Arme des Hauptmanns an ihr

vorüberging. Sie nahm den Platz in dem Lehnstuhl
neben dem Professor ein, dem Hauptmann theilte sic
flüsternd mit, daß der freie Sessel neben dem Helenens
für ihn bestimmt sei. Erst als sie sich in dem Lehn-
stuhl niedergelassen hatte, setzten sich alle Anderen, nur
der Professor blieb hinter seinem Sessel stehen. Der
alte Walter zog sich in die breite Fensternische zurück,
der fremde Lohndicner stellte sich hinter den Professor,
da stand er kerzengerade, starr wie eine Bildsäule.
Eine tiefe Stille entstand, alle Augen waren auf
den Professor gerichtet. Er schaute sich im Kreise
um, dann begann er zu sprechen mit tiefer, klaugvoller
Stimme:
„Meine theuren Freundinnen und Freunde! Zum
ersten Male sind wir seit längerer Zeit heute wieder
tren vereint und mit uns zwei neu in unseren Kreis
Getretene, der Herr Hauptmann v. Ogorin und Fräu-
lein Helene, die liebliche Tochter des Hauses. Es ge-
reicht mir zur besonderen Freude, Beide begrüßen zu
können in der frohen Hoffnung, daß, wenn auch in
diesem Augenblick ihr Herz noch nicht erfüllt ist vom
Glauben, sie bald uns ganz gewonnen werden durch
die Kraft, welche der ewigen Wahrheit inucwohnt, und
die selbst die Ungläubigsten zum Glauben zwingt
Meine Hoffnung ist um so fester begründet, weil, heute
auch znni ersten Male, Herr Baron v. Severin in
unserer Mitte weilt, er, der hoch Begnadigte! Ge-
statten Sic mir, meine Verehrten, ehe wir zn dem
Werke schreiten, welches uns vereint, einige Worte
der Vorrede, welche freilich nicht für Sie, die Glau-
benden, Wissenden, bestimmt sind, sie sollen viel-
mehr nur unseren neuen Freunden eine Andeutung über
die Gesichtspunkte geben, von welchen aus sic unsere
Bestrebungen aufzufassen haben. Mir sind nicht ver-
eint, um wunderbare Naturphänomene zu beobachten,
den grobmateriellen Standpunkt, welchen früher der
Spiritismus inne hatte, haben wir längst verlassen.
Das Wunder der sich bewegenden, sich drehenden, klo-
pfenden Tische, diese Produktionen der geistmagnetischen
Kraft gehören in die erste Zeit der Entwickelung unserer
Lehre. Damals waren wir uns noch nicht der Kraft
bewußt, die uns Allen und Manchem von uns in
höherem, Wenigen in höchstem Maße innewohnt; wir
kannten kein anderes Mittel, die Offenbarungen der
im Weltcnraum frei sich bewegenden Geister zu errin-
gen, als das Klopfen der durch ihre Kraft sich be-
wegenden Tische. Durch dieses Klopfen erhielten wir
zucrst Antworten auf unsere Fragen, wir wußten nicht,
daß ein mit hoher geistmagnetischer Kraft begabtes
Medium solcher äußerer Mittel nicht bedarf. Seine
Seele wird durchdrungen von dem Geiste, wenn cs
in Verzückung geräth, das Medium leiht dann seinen
eigenen Körper dem Körperlosen, aus seinem Munde
tönen Worte, die nicht seineni eigenen Denken ent-
sprossen sind, seine Hand, die den Bleistift über das
Papier führt, folgt nicht seinem eigenen Willen, sie
wird nicht geführt durch den Geist, sondern ist die
Hand des Geistes geworden, der mit ihr schreibt, der
durch den Mund des Mediums zu uns spricht.
Nur die am höchsten mit der Kraft Begabten ge-
langen zu so vollkommener Verschmelzung ihrer eigenen
Seele mit der der Geister, um so höher haben wir
dahcr das Glück zu schätzen, in dem Herrn Baron
Severin einen so Begabten unter uns zu sehen. Meine
durch das Alter leider abgestumpfte Kraft wird sich
verbinden mit der seinigen, und uns Beiden vereint
wird es gelingen, das Höchste zu erreichen.
Die Seele, welche nach dem Tode sich losgernngen
hat von der lästigen körperlichen Hülle, welche frei im
Weltraum schwebt, ist nicht mehr gebunden an einen
bestimmten Raum, nicht mehr an das Physikalische, nur
für Körper gütige Gesetz der Schwere, sie ist nicht
allgegenwärtig, aber ihre Bewegung von einem Ort
zum anderen wird nicht gehemmt durch die den Körper
in der freien Bewegung hindernden Schranken, sie ver-
mag die Räume zu durchdringen, auch wenn sie ver-
schlossen sind durch feste Wände, cs gibt für sie kein
körperliches Hinderniß, und weil sie mit solchem nicht
zu kämpfen hat, existirt für die Schnelligkeit ihrer Be-
wegung kein Zeitbcgriff.
Nicht mehr gebunden an einen bestimmten Raum,
sucht die abgeschiedene Seele naturgemäß die Stätten
auf, wo sie einst gelebt hat, wo sie glücklich war oder
schwer litt, die Stätten, wo ihre im irdischen Leben
zurückgebliebenen theuren Angehörigen oder Freunde
weilen, unsichtbar umschwebt sie diese, der Tod trennt
uns nicht von unseren Lieben, sie bleiben uns nahe mit
ihrer verklärten Liebe, sie sind noch sie selbst, nur den
Körper hat ihnen der Tod genommen, nicht aber jene
seelischen Eigenschaften, durch welche sie sich im Leben
auszeichneten, selbst nicht ihre Fehler. Das Leben nach
dem Tode ist nur eine Fortsetzung, eine Entwickelung
des diesseitigen Lebens! Nicht in einem Moment
schwingt sich durch den Tod die Seele des sündigen
schwachen Menschen auf zur Vollkommenheit, sie bedarf
der Läuterung, der Entwickelung, die ihr durch über-
irdische Gnade zu Theil wird.
Wie lange dieser Läuterungsprozeß dauert, ob er

- Jahrhunderte oder Jahrtausende umfaßt, das wissen
wir nicht und es kümmert uns auch nicht, denn in der
Ewigkeit ist ja ein Jahrtausend nur ein Tag , aber
wir wissen durch die Geister der Dahingcschiedenen,
daß die endliche Entwickelung zur Vollkommenheit ihre
Ausgabe im ewigen Leben ist, wir wissen, daß die Er-
füllung dieser Aufgabe denen, die im irdischen Leben
der Sünden voll waren, schwerer wird, als den Tugend-
haften, wir wissen, daß die himmlische Gnade oft denen,
die ein kurzes, trauriges, irdisches Leben geführt haben,
gestattet, in einem zweiten irdischen Leben das Erden-
glück zu finden, welches ihnen im ersten Leben versagt
war, und daß ihnen dies zweite Leben als eine Vor-
stufe zur weiteren Entwickelung nach dem Tode dient.
Dies Alles wissen wir! Wir glauben nicht, wir
wissen! Das ist das Große, das Gewaltige der spiri-
tistischen Offenbarungen, daß jeder Zweifel vor ihnen
weichen muß, daß die Religion nicht mehr auf einem
erschütterbarcn Glauben, sondern auf einer unumstöß-
lichen Ueberzeugnng beruht.
Sind cs doch die Geister der edelsten Dahingcschie-
dcnen selbst, die uns einen Blick in das Jenseits ge-
währt haben, die unsere Lehrer gewesen sind und
fortdauernd sind.
Wir, die Jünger der Religion des 19. Jahr-
hunderts, des Spiritismus, betrachten cs als unsere
Lebensaufgabe, durch unseren Verkehr mit edlen
Geistern "der Erforschung der Wahrheit näher zu
kommen, uns durch die Geisterlchre zu veredeln und
vorzubereiten auf die Entwickelung im jenseitigen Leben;
aber auch im irdischen Leben machen wir den Verkehr
mit den Geistern unserer dahingcschiedenen Lieben uns
fruchtbar. Sie, die uns schützend umschweben, sind
unsere treuen Berather auf unserem Lebenswege.
Sie, mein verehrtes gnädiges Fräulein, und Sie,
Herr Hauptmann v. Ogorin, werden heute znm ersten
Male Zeugen der spiritistischen Offenbarungen sein.
Noch ist das Vcrständniß für dieselben Ihnen ver-
schlossen, noch ist Ihr Herz erfüllt mit Mißtrauen.
Ich bitte Sie nicht, zu glauben und zu vertrauen,
nein, ich fordere Sie auf: mißtrauen Sie, zweifeln
Sie, prüfen Sie! Je schärfer Sie Prüfen, uni so
schneller wird sich Ihnen die Wahrheit offenbaren, um
so sicheret werden wir Sie bald als überzeugte Jünger
des Spiritismus zu den Unsrigen zählen.
Und nun lassen Sic uns unser Werk beginnen, zu
dem uns der Segen von oben nicht fehlen möge; darum
lassen Sie uns flehen."
So schloß der Professor seine lange Rede, er senkte
das Haupt, faltete die Hände und murmelte leise vor
sich hin; alle Anwesenden folgten seinem Beispiel, nur
der Hauptmann v. Ogorin und Helene nicht.
Es wäre Helenen als eine vcrabscheuungswürdige
Profanation des Heiligen erschienen, sie konnte weder
Theil an dieser unwürdigen Komödie nehmen, noch sich
den Schein geben, als thue sie es, auch auf die Gefahr-
Hin, die Baronin zu beleidigen. Und wie sie dachte
ihr Nachbar, der Hauptmann; bis jetzt hatte er ihr
keine Aufmerksamkeit geschenkt, cr hatte sich neben sic
geseßt, indem er sie nur eben mit einer leichten Ver-
beugung begrüßte, dann hatte er während der ganzen
Rede des Professors diesen unverwandt angcschaut, jetzt
erst traf sie sein Blick. Er war sichtlich angenehm
überrascht und sein Ange leuchtete auf, als er sie
betrachtete, er mochte wohl in ihrem Gesicht den Aus-
druck des Unwillens erkennen, der sie erfüllte.
Die allgemeine Stille wurde jetzt unterbrochen.
Ter Professor wendete sich an den Baron Severin.
„Können wir beginnen, Herr Baron? Fühlen Sie in
sich die Kraft?"'
„Ich fühle sie und bin bereit!" lautete die einfache
Antwort.
Der Professor winkte dem Lohndiener, dieser holte
; schnell einen Lehnstuhl herbei, er bedurfte keines Be-
fehles in Worten, der Wink des Professors genügte
ihm. Er vertauschte den einfachen Sessel, auf welchem
! der Baron bisher gesessen hatte, mit dem Lehnstuhl,
in dem der Baron sich niederließ, dann stellte er sich
wieder hinter den Professor, er nahm dieselbe steife,
kerzengerade Stellung ein, wie vorher.
Die Augen aller Anwesenden waren auf den Pro-
fessor gerichtet, sie verfolgten jede seiner Bewegungen
mit gespannter Aufmerksamkeit, diese Bewegungen waren
aber' auch merkwürdig genug. Er stand'vor dem be-
quem im Lehnstuhl sitzenden Baron, mit starren Augen
blickte er ihn an, dabei bewegte er die Hände vor dein
Gesicht des Sitzenden so hin und her, als wolle er über
die Stirne und die Augen desselben streichen, aber er
berührte ihn nicht, bald kamen seine Hände dem Gesichte
näher, bald ganz nahe, dann entfernten sie sich wieder
und veränderten die Richtung, immer aber heftete sich
der starre Blick des Professors auf das Auge des jungen
Mannes, der diesen Blick nicht ertragen konnte, fort-
schaute, ihm aber immer wieder mit den Augen be-
gegnete.
' Mehrere Minuten lang setzte der Professor seine selt-
samen Bewegungen der Hände fort, ohne daß sie irgend
eine Wirkung ans den Baron auszuüben schienen, jetzt
 
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