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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 20.1885

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Heft 14
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318

Das Buch für Alle.

Heft 14.

begeben werde. Der Graf und die Gräfin, welche den
Hauptmann Sarren hochachteten und Helene sehr lieb
gewonnen hatten, waren empört darüber, daß die schon
abgeschlossene und veröffentlichte Verlobung Helenens
mit einem verdienstvollen österreichischen Offizier aus
einem, ihrer Ansicht nach völlig nichtigen Grunde ge-
löst werden sollte. Sie hatten Partei für die Ver-
lobten genommen und waren hiedurch mit der Baronin
in einen argen Konflikt gekommen, jetzt gaben sie ihrer
Ueberzeugung dadurch Ausdruck, daß sie sich freudig
bereit erklärten, Helene in ihre Familie aufzunehmen
und sie gegen die eigenen Eltern zu beschützen.
Der Baron schäumte vor Wuth. Die Verlobung
war bereits in den Zeitungen veröffentlicht. Die Ver-
lobungsanzeigen an Verwandte nnd Freunde waren
zwar durch die Baronin noch im letzten Augenblick
zurückgehalten worden, aber die Zeitungsinserate hatte
der Hauptmann vorher schon besorgt, und von allen
Seiten trafen schriftliche Glückwünsche ein. Der Skandal
über die Lösung einer so veröffentlichten Verlobung
mußte um so größer werden, als ein stichhaltiger
Grund dafür Wohl für den Baron selbst, nicht aber
für die Außenwelt vorlag. Wie diese, wie selbst
Standesgenossen über den Wortbruch des Barons ur-
theilen würden, zeigte das Beispiel des Grafen und
der Gräfin Maresch. Den Hauptmann konnte kein
anderer Vorwurf treffen, als der, daß er bürgerlich
war — denn daß er nicht zu rechter Zeit den ver-
hängnißvollen Jrrthum aufgeklärt hatte, konnte man
ihm doch unmöglich Vorhalten, da er ja von dessen
Existenz gar keine Ahnung gehabt hatte.
Was konnte der Baron in solcher Lage thun? Er
mußte nachgeben, aber die Liebe zu der Tochter riß
er gewaltsam aus seinem Herzen! Er reiste ohne
Helene, nur begleitet von seiner Gemahlin, nach Ber-
lin zurück. Schwer leidend traf er in seinem verödeten
Hause wieder ein, von dem Lager, auf welches er tief
erschöpft von der Reise niedergesunken war, erhob er
sich nicht wieder.
Monate vergingen. Die Baronin saß Tag und
Nacht unermüdlich als treue Pflegerin am Bett des
geliebten Kranken. Wenn er in wilden Fieberphan-
tasien die früher so geliebte Tochter verfluchte, suchte sie
ihn mit milden Worten zu beruhigen, wenn er dann
zürn Tode matt in trostloser Schwäche weinte und
jammerte, versuchte sie ihn zu trösten; nicht einen Mo-
ment wurde sie müde in der aufopferungsvollen Er-
füllung der schweren Pflicht, obgleich sie selbst so
dringend der Beruhigung und des Trostes bedurfte.
Es war eine entsetzliche, traurige Zeit; die Erinne-
rung an dieselbe, die in der alten Frau durch die ver-
gilbten Briefe in der Mappe wieder erweckt wurde, er-
preßte ihr Thrünen. Von diesen Briefen waren viele
gerade in jener Zeit geschrieben: aber keiner derselben
hatte eine Antwort erhalten. Wohl hing noch immer
das Herz der Mutter an dem theuren Kinde, aber die
Baronin glaubte, das stürmische Schlagen des rebelli-
schen Herzens unterdrücken zu müssen, ein Gebot der
Pflicht zu erfüllen, indem sie ihr Ohr verschloß gegen
die flehenden Bitten, die Helene in ihren Briefen aus-
sprach. Verzeihen konnte, durfte sie nicht, wenn nicht
Helene reumüthig in das Vaterhaus zurückkchrte, sie
durfte selbst nicht antworten auf alle diese Schreiben,
in denen die Tochter ihre innige Liebe zu den Eltern
mit zärtlichen, demüthigcn Worten betheuerte, der Wille
des Kranken, der jede Antwort streng verboten hatte,
war für sie ein nie zu verletzendes Gesetz.
Mit zitternder Hand blätterte die Baronin in den
Briefen, sie hatte nicht nöthig, sie nochmals zu lesen,
sie kannte ja den Inhalt jedes Schreibens; dieses Eine
hier, das, welches sie gerade jetzt in der Hand hielt,
weckte die traurigste Erinnerung. Es enthielt die Nach-
richt, daß Helene die Gattin ihres Verlobten geworden
war. Sie erkannte es an dem breiten Riß, der quer
fast durch das ganze Papier ging.
Sie hatte damals, als sie die Nachricht erhielt, die
sie zwar lange erwartete, ini Geheimen aber noch immer
nicht zu bekommen hoffte, im auslodernden Zorn den
Brief halb zerrissen, dann war sie mit demselben an
das Krankenlager geeilt. Sie durfte dem Gatten nicht
verschweigen, was geschehen war, aber wenn sie es auch
gewollt hätte, sie würde es nicht gekonnt haben. Ehe
sie noch ein Wort zu sprechen vermochte, hatte er in
ihrem verstörten Gesicht gelesen. Er richtete sich im
Bett auf. »Gib mir den Schandbrief!" rief er mit
seltsam heiserer Stimme. „Ich will ihn selbst lesen!
Aber nein, es ist nicht nöthig, ich weiß ja, was ge-
schehen ist. Sie ist das Weib des elenden Buben!
Schwöre mir, daß Du. ihr in diesem Leben niemals,
niemals verzeihen willst. Und wenn sie sterbend zu
Deinen Füßen läge und Dich anflehte um Vergebung,
dann sollst Du sie unbarmherzig von Dir stoßen! Das
schwöre mir!"
Sie hatte es ihm geschworen, dafür hatte er sie so
zärtlich und innig geküßt, wie in der Zeit ihrer ersten
Liebe, dann war er zurückgesunken in die Kissen des
Lagers, noch einen Blick voll inniger Liebe hatte er
ihr geschenkt, ehe sich sein Auge schloß — für immer!

Und was er mit seinen letzten Worten von ihr ge-
fordert hatte, das stand niedergelegt in einem Briefe,
der wenige Tage vor seinem Ende von ihm geschrieben
worden war, diesen Brief, der den letzten Willen des
Verstorbenen enthielt, übergab dessen treuer Diener-
Walter der Baronin.
Das unselige Schreiben selbst lag in der Mappe
unmittelbar neben dem halbzerrissenen Briefe. „Mein
letzter Wille!" war es überschrieben und adressirt an
die Frau Baronin v. Merzbach, geborene v. Ogorin.
Es enthielt den Fluch des Vaters gegen die pflicht-
vergessene, ungerathene Tochter und deren Enterbung.
Es legte der Mutter die Pflicht auf, auch ihr eigenes
Vermögen dereinst der Entarteten zu entziehen, diese
niemals als ihre Tochter anzuerkennen, auf keinen ihrer
Briefe zu antworten, sie zu betrachten, als ob sie
todt sei.
Eine Abschrift dieses letzten Willens, begleitet von
der breit schwarzgeränderten Anzeige von dem Dahin-
scheiden des Freiherrn v. Merzbach, war die einzige
Antwort, welche Helene auf ihren letzten Brief erhalten
hatte.
Der Baron hatte niemals viel von Rechtsgeschäften
verstanden: er hatte geglaubt, ein rechtsgültiges Testa-
ment in seinem letzten Willen zu hinterlassen, der
Doktor Ritter aber belehrte die Baronin, daß ein ein-
facher an die Gattin gerichteter Brief keine Rechtskraft
habe. Er schrieb dies auch Helene und forderte sie auf,
das ihr gesetzlich zustehende Recht geltend zu machen;
ihre Enterbung sei ungesetzlich und daher null und
nichtig.
Die Antwort Helenens war ein an die Adresse des
Doktors gerichteter, aber für die Mutter bestiminter
Brief. Helene dankte dem Doktor für seine treue
Freundschaft, wies aber die Zumuthung, den letzten
Willen ihres Vaters anzufechten, von sich ab. Nicht
die Erbschaft, nur die Liebe des theuren Verstorbenen
habe sie sich gewinnen wollen, wie sie nicht ruhen
werde, bis sie sich die Liebe der Mutter wieder erworben
habe. Sie werde nicht müde werden, um deren Ver-
zeihung zu bitten und wieder und immer wieder zu
bitten, auch wenn sie niemals eine Antwort auf ihre
Briefe erhalte.
Dem Schreiben lag ein in aller Form des Rechts
abgefaßtes, von Helene unterschriebenes und von dem
Hauptmann Sarren mitunterzeichnetes Dokument bei,
in welchen: Helene ausdrücklich den letzten Willen ihres
Vaters als rechtsgiltig anerkannte und auf ihren An-
theil aus der Hinterlassenschaft desselben verzichtete.
Als der Doktor Ritter der Baronin diesen Brief
brachte, in welchem jedes Wort für die zärtliche Liebe
der Tochter zu den Eltern Zeugniß ablegte, bebte Wohl
das Herz der schwergeprüften Frau, aber sie hielt es
für ihre Pflicht, diese Regung zu unterdrücken, den
Schwur zu erfüllen, den sic dem Sterbenden geleistet
hatte. Vergeblich stellte ihr der treue Freund vor,
daß solch' ein Schwur niemals für das Leben bindend
sein könne, daß der Pflicht gegen den verstorbenen
Gatten die Mutterpflicht gegen die lebende Tochter
gegenübcrstehe und vorangehen müsse — er wurde mit
scharfen, strengen Worten zurückgewiesen. „Mein Kind
ist todt; ich habe keine Tochter mehr!" erklärte die
Baronin, sie verbat sich jede Erinnerung an die, wie
sie sagte, für sie todte Tochter.
Und doch lebte die Liebe zu dieser unverlöschlich im
Herzen der Mutter; als Doktor Ritter sie verlassen
hatte, las sie Helenens Brief noch einmal und noch
einmal, dann küßte sie ihn und legte ihn endlich in
die Mappe zu den übrigen Briefen Helenens und zu
denen des theuren Verstorbenen. Viele spätere Schreiben
der nicht im Bitten um Verzeihung ermüdenden Tochter
folgten, keines wurde beantwortet, aber alle fanden
ihren Platz in der Mappe und wurden unzählige Male
gelesen von der Baronin, die jedes Wort dieser liebe-
vollen Briefe treu im Gedächtnis; bewahrte, sie aber
doch immer auf's Neue las; sie gewährten ihr wenig-
stens den Trost, daß ihre Helene, wenn auch tief traurig
über die Trennung von der Mutter, doch glücklich
durch die Liebe ihres Gatten sei, den sie als den besten,
trefflichsten Menschen schilderte, der. sogar der Gattin
zu Liebe seine frühere Leidenschaft für das Spiel be-
herrschte und ihr fest versprochen habe, nie wieder eine
Karte zu berühren.
Viele Monate vergingen ohne eine Unterbrechung
in dem Eintreffen der Briefe, da plötzlich aber blieben
diese aus. Was hatte das Schweigen Helenens zu be-
deuten t War sie krank geworden? Der letzte Brief
war aus einer entlegenen Stadt Ungarns gekommen;
er hatte zum ersten Male die Andeutung einer ge-
heimen Sorge enthalten. Der Hauptmann Sarren
hatte das Schicksal der meisten österreichischen Offiziere
getheilt, er war versetzt worden und zwar zu seinem
großen Mißbehagen nach einem fernen, kleinen Garni-
sonsort, in welchem der lebenslustige Offizier auf alle
Freuden der Geselligkeit verzichten mußte, wenn er
nicht Theil nahm an den Gelagen der meist unver-
heiratheten Kameraden. Es war zwischen den Zeilen
die Sorge, Helenens zu lesen, daß ihr Gatte an diesen

Gelagen und besonders an den denselben folgenden
Hazardspielen Geschmack finden und wieder in seine
frühere Leidenschaft für das Spiel zurückfallen könne.
Hatte diese Sorge sich erfüllt? Schwieg Helene, weil
sie der ohnehin über ihre Wahl zu tief erzürnten
Mutter ihr Leid nicht klagen wollte?
Die Baronin verlebte eine angstvolle, traurige Zeit!
Sie hätte diese vielleicht leichter ertragen, wenn sie
ihre Sorge ihrem treuen Freunde, dem Sanitätsrath
Ritter anvertraut hätte; das aber duldete ihr Stolz
nicht. Sie hatte ihm jede Erinnerung an Helene ver-
boten, hatte diese eine für sie Verstorbene genannt, wie
hätte sie da jetzt selbst dem Freunde ihre Herzensangst
anvertrauen können? Er durfte nicht ahnen, daß sie
von banger Sorge verzehrt wurde. Wenn das Herz
sie drängte, sich ihm anzuvertrauen, dann las sie den
letzten Willen des Verstorbenen, dann erinnerte sic
sich des gegebenen Versprechens. Sie durfte Helene nie-
mals verzeihen, wenn ihr auch das Herz darüber brechen
sollte.
Ihre geheime Sorge sollte sich, trauriger als sie
selbst es geahnt hatte, erfüllen. Eines Tages, die Ba-
ronin lag krank im Bett, kam der Sanitätsrath Ritter,
er setzte sich an ihr Bett, das that der vielbeschäftigte
Arzt, der nur sehr kurze Krankenbesuche machen konnte,
sehr selten; an jenem Tage aber schien er selbst der
Ruhe bedürftig, der matte Ausdruck seiner Züge zeigte,
daß er tief erschöpft war. In ganz geschäftsmäßiger
Weise gab er zuerst seine ärztlichen Anordnungen, dann
aber blickte er lange Zeit schweigend finster vor sich
nieder. „Sie haben nur zwar verboten, gnädige Frau,"
sagte er endlich, „Sie jemals an Ihr unglückliches Kind
zu erinnern, heut' aber muß es doch geschehen."
Ohne die ablehnende Bewegung der Baronin zu
beachten, fuhr er fort: „Sie müssen mich anhören,
gnädige Frau. Es handelt sich hier um Leben und
^.od. Helene hat mir geschrieben. Sie hat einen Brief
für Sie in den meinigen eingelegt. Lesen Sie beide
Briefe, und wenn Sie dann noch starr auf Ihrem
Willen bestehen, tragen Sie kein Menschenherz, sondern
ein Herz von Stein in Ihrer Brust."
Sie las. O dieser Brief! Wie schnitten seine
Worte ihr in die Seele! Einem Fremden erzählte
Helene ihr entsetzliches Unglück, einen Fremden flehte
sie an, er möge das harte Mutterherz beugen, möge
ihr die Verzeihung der Mutter und ihre Hilfe in der
fürchterlichen Noth erwirken. Trostlos, allein, aller
Mittel selbst zum dürftigsten Lebensunterhalt beraubt,
lag die Unglückliche in einer fernen ungarischen Land-
stadt auf dem Krankenlager. Hauptmann Sarren Mar-
der wieder erwachten wilden Leidenschaft zum Spiel
zum Opfer gefallen! Nachdem er sein ganzes Ver-
mögen verspielt und Ehrenschulden gemacht hatte, die
er niemals hätte bezahlen können, hatte er, an der
Zukunft verzweifelnd, sich eine Kugel durch den Kopf
geschossen. Seine unglückliche Wittwe hatte er hilflos,
aller Mittel beraubt, zurückgelassen. Helene und das
Kind, welches sie erwartete, waren dem Hungertode
preisgegeben, wenn ihr nicht schneller Beistand wurde.
Dies war der Inhalt des ersten Briefes, der zweite,
an die Baronin selbst gerichtete, enthielt nur demüthige,
innige Bitten um Verzeihung.
Die Baronin hatte, während sie die Briefe las,
ihr Gesicht nach der Wand gedreht, um die Thränen
zu verbergen, welche sie vergoß. Selbst der alte treue
Freund durfte nicht wissen, wie tief die flehenden Worte
Helenens sie bewegten, selbst er durfÜ nicht ahnen,
daß sie im Herzen längst der unglücklichen Tochter-
vergeben habe, daß nur das dem Verstorbenen gegebene
Wort sie zwang, als fühllose harte Mutter zu er-
scheinen. Dies Wort aber legte ihr eherne, unzerreiß-
bare Fesseln auf.
„Run?" fragte der Sanitätsrath, als Minute auf
Minute vergangen war und er noch immer keine Ant-
wort erhielt, obgleich die Baronin die Briefe längst
gelesen haben mußte.
Das mahnende Wort gab ihr die verlorene Fassung
zurück; sie wendete sich nach dem Mahner um, keine
Thräne glänzte mehr in ihrem Auge. „Sie kennen
den letzten Willen meines Gatten, Sie wissen, daß ich
nie einen anderen Willen gehabt habe als er!" sagte
sie mit seltsam tonloser Stimme.
„So wollen Sie also Ihre Tochter in Elend und
Noth verkommen, den Hungertod sterben lassen?"
„Nein, ich werde der Frau Hauptmann Sarren
eine Geldsumme schicken, welche sie vor der äußersten
Roth schützt."
„Und Sie werden ihr verzeihen! Sie werden ihr
ein Wort der Liebe und des Trostes senden! Sie wer-
den sie auffordern, mit ihrem Kinde zurückzukehren zu
der trauernden Mutter, sich zu flüchten vor dem gren-
zenlosen Unglück an die Mutterbrust!"
„Niemals! Ich habe keine Tochter mehr!"
Der Sanitätsrath sprang so jäh auf, daß er den
Stuhl, auf welchen: er gesessen hatte, umwarf. „Dies
Wort verzeihe Ihnen Gott!" rief er empört. „In
Ihrer letzten Stunde noch werden Sie es bereuen! Haben
Sie denn gar kein Muttergefühl? Auch der ärmsten
 
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