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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 20.1885

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Heft 25
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https://doi.org/10.11588/diglit.61341#0583
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Das Buch für Alle.

Heft 25.

Er reichte das Kästchen dem Mädchen dar, und
ohne daß er dies beabsichtigt, berührte er mit derber
Hand einen hervorstehenden Knopf an der Seitenwand
der Schatulle. Klirrend schnellte der Deckel empor
und der ganze Inhalt lag bloß und offen da. Karen
wie Jürgen stießen gleichzeitig einen Schrei der Ueber-
raschung aus: es waren lauter Goldstücke, die ihnen
entgegenblitzten.
Fast wie betäubt starrten sie auf das im Monden-
glanze flimmernde Gold, da scholl von Süden her ein
dumpfes Brausen durch die stille Nacht. „Fort," rief
Jürgen Pellworm, „fort, die Fluth naht!"
Hastig klappte er den Deckel des Kästchens zu und
schob es in seinen Sack; dann ergriff er Karen's Hand,
und fort ging's über den Schlick. Die Hand aber ließ
er nicht mehr los; es war, als fürchte er seinen Schütz-
ling zu verlieren. Die Wasserrinnen begannen sich all-
mählig immer mehr zu füllen, wenngleich die eigent-
liche See nur langsam heranrückte, und noch war der
Boden trocken, über den die beiden nächtlichen Wan-
derer dahineilten.
„Wir müssen hier schräg hinüber," sprach der
Schlickläufer, einen Augenblick stehen bleibend, „damit
wir über die Stenachmulde gelangen, ehe sie sich mit

begannen. „Du mußt selber suchen, Karen," schrie er,
und faßte das Mädchen heftig am Arme.
Karen schrak zusammen, als sie in Jürgen's Ant-
litz sah und versuchte sich loszureißen. Da trat ihr
Fuß auf die scharfe Kante eines vom Sande nur leicht
bedeckten Gegenstandes, sie verlor das Gleichgewicht
und glitt mit einem leichten Aufschrei zur Seite. Aus
dem Munde des Schlickläufers aber, der hastig ihre
Hand fahren ließ, entrang sich ein heiserer, unartiku-
lirter Laut.
„Karen," schrie er endlich wie außer sich, „Karen,
die See gibt Dir Dein Erbe! Sieh, zu Deinen Füßen
liegt das Kästchen!"
Ja, das war es, das schwarze Kästchen mit den
Silberbeschlägen; Jürgen Pellworm hielt es in seinen
Händen, und die Strahlen des Mondes spielten glitzernd
auf den metallenen Kanten. Das war Wirklichkeit
und kein Traum! Karen Preßte die Hand an die
Stirn, sie vermochte es noch nicht zu fassen, denn jede
kühne Hoffnung macht den Menschen bestürzt, wenn er
sie Plötzlich erfüllt sieht.
„Karen," sprach der Schlickläufer endlich, „hier lege
ich das Kästchen in Deine Hände; ich schwöre Dir's zu,
es ist dasselbe, das Dein Vater mir einst übergeben."

Ort, wo unser Boot anlegte, wo mir das Kästchen da-
mals entfiel und ich es gestern zwischen den Klippen
liegen —"
Er vollendete den Satz nicht mehr, sondern begann
in fieberhafter Aufregung nmherzublicken. Wie ein
Spürhund rannte er den Graben entlang, kehrte wieder
zurück und umkreiste die Stelle, auf der Karen ruhig
stehen geblieben war.
„Sollte ich mich im Orte getäuscht habend" mur-
melte er Vor sich hin. „Nein, das ist nicht möglich!
Wie aber, wenn die See es wieder im Sande be-
graben hätte, in dem sie es durch einundzwanzig Jahre
verborgen gehalten? Karen, ich vermag das Kästchen
nicht mehr zu finden."
„So laß uns heimkehren, Du siehst, die See ist zur
Lügnerin an uns geworden."
„Die See hält Wort!" rief der Schlickläufer mit
heiserer Stimme. „Komm, Karen, Du mußt selber
suchen, Du bist die Erbin und Du wirst es gewiß
finden!"
„Es ist umsonst, Jürgen, umsonst —"
„Nein, es ist nicht umsonst," keuchte der Alte, und
in seinen Mienen spiegelte sich eine unsägliche Angst
ab, indeß seine Augen wieder unheimlich zu flimmern

Ser ehemalige Hantstuhl vor dem Ziathhausc in München,

Wasser füllt, sonst werden wir abgeschnitten."
Wieder eilten sie vorwärts, und als sie athemlos
die Stenachmulde erreichten, hatte die Fluth mit ihren
weißen Schaumkämmen eben den Einzug in dieselbe
gehalten.
„Es ist zu spät," stieß Jürgen Pellworm erschrocken
hervor, „es ist zu spät! Doch komm, Karen," fügte
er ruhiger hinzu, „komm! Ich weiß da eine hohe
Sandbank, auf der sind wir sicher vor dem Aergsten."
Und auffs Neue begann der Lauf. Oft schon über-
spülten die Wellen der andrängenden Fluth die schma-
len Sandbänke, auf denen sie dahin eilten. Endlich
standen die Eilenden still; sie konnten nicht mehr vor-
wärts.
„Komm' hieher, Karen," sagte der Schlickläufer, in-
dem er das Mädchen auf den höchsten Punkt einer
Sandbank zog. „Hier wollen Wir's abwarten in Geduld."
Leise murmelnd begannen die Wellen ihre geheim-
nißvollen Kreise um den Zufluchtsort der Beiden zu
ziehen. Schlangen gleich krochen sie heran und näher
und immer näher ringelten sie sich um die Füße der
Dastehenden. Der Mond versank hinter dem Gewölk
im Westen. Trübe und grau lagerte sich die Morgen-
dämmerung über der dunklen Wasserfläche. Da spülte

Strafmittel für in Konkurs gekommene Schuldner.
die erste Woge über die Sandbank und schaudernd fuhr
Karen zusammen.
„Erschrick nicht, Karen," sprach der Alte, „erschrick
nicht! Bald bricht der Tag an und sein Licht wird
uns Hilfe bringen."
Er war so ruhig geworden, er sprach so besonnen,
so klar, daß es Karen erst befremdete und ihr dann
doch wieder Muth einflößte. Aber es dauerte nicht
lange, dann kam die zweite Welle, und nach einer
Weile auch die dritte und vierte. Das waren die
Boten des nahenden Todes, sie wußte es, Jürgen
mochte sie trösten, so viel er wollte. Konnte sie aber
abschließen mit ihrem jungen Leben, jetzt, wo sich das
Unglaubliche verwirklicht, wo sich die Zukunft vor ihren
Blicken aufthat, so rosig und hoffnungsreich? Sie
preßte die Rechte auf ihr heftig pochendes Herz... ja
hoffnungsreich war die Zukunft, wenn Klas Lürsen
ihr Erbe annahm. Wie aber, wenn er es verschmähte,
wenn er von ihr nichts mehr wissen wollte? Da war
es doch Wohl besser zu sterben, und es umschloß sie
wenigstens dasselbe Grab mit ihren Eltern!
lind langsam stieg die Fluth.
Drüben im Osten röthete sich bereits der Himmel,
und das Grauen der Morgendämmerung begann dem

Nach einer Originalskizze von I. Puschkin. (S. 591)
Lichte des jungen Tages zu Weichen. Der Anblick, den
er den Eingeschlossenen offenbarte, war indeß nicht trost-
voll; er zeigte ihnen die Gefahr, in der sie schwebten,
in ihrer vollen Größe. Rings umher nichts als kräu-
selnde Wogen, und der Strand von Rantum noch so
fern, daß man sie von dort aus nicht zu bemerken
vermochte.
Und höher stieg die Fluth.
Schon spülten ihnen die Wellen bis an die Kniee.
Wie lange vermochten sie noch der steigenden Fluth
Widerstand zu leisten? Vielleicht eine Frist von einer
halben Stunde war ihnen noch geschenkt, dann riß sie
das Wasser fort, und die graue See breitete sich aus
über die Beiden.
Da fuhr der Schlickläufer, der schweigend und
finster an Karen's Seite stand, plötzlich zusammen.
„Karen," fragte er mit unsicherer Stimme, „be-
merkst Du nichts dort drüben in der Richtung nach
Morsum?"
„Wohl, Jürgen Pellworm!" Karen's Stimme
bebte, „es ist ein Boot — ein Boot!"
„So gib mir rasch Dein Umhängetuch," drängte der
Alte, und nachdem er es erhalten, ließ er es gleich
einer Flagge im Morgenwinde flattern.
 
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