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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 20.1885

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Heft 26
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Hrft 26.

Das Buch für Alle.

ÄS

603

klären, daß derselbe nach seiner Aussage etwa drei
Cigarren gekaut habe, also in kürzer Zeit eine große
Menge des Giftes in sich aufnahm. Wären die
Cigarren, wie es wohl in der Absicht des Absenders
lag. nach und nach geraucht worden, so würde die
Vergiftung eben allmählig erfolgt sein; es wäre eine
schleichende Krankheit cingetreten, die langsam aber
sicher zuni Tode geführt hätte.
Mit diesem Gutachten stimmte auch jenes überein,
welches der Gerichtschemiker über die Glasplatte ab-
gab. Dieser stellte fest, daß das Glas mit einer
Flüssigkeit bestrichen worden sei, welches sich als ein
zusammengesetztes Pflanzengift erwiesen habe. Durch
das Berühren des Plättchens mit den Lippen wurde
zwar stets nur eine geringe Menge des Giftstoffes dem
Körper zugeführt, aber d'a dies wiederholt geschah, so
mußte auch hier allmählig die Vergiftung eintretcn.
Das Gutachten gab auch die Erscheinungen an, welche
das Gift Hervorrufen müsse, und diese stimmten voll-
kommen mit jenen überein, welche die Aerzte an Klo-
tilde beobachtet hatten.
Es stand somit fest, daß an Klotilde wie an Her-
mann ein Vergiftungsversuch unternommen worden
war, daß in beiden Fällen der gleiche Giftstoff in
Anwendung kam, somit aller Wahrscheinlichkeit nach
ein und dieselbe Person die Hand im Spiele hatte.
Es galt nun, den Absender der Cigarren auSzu-
sorschen; und zu diesem Behufs war das Cigarren-
kistchen sowie der Begleitschein an die Polizeidirektivn
eingesendet worden. Daraus ließ sich Tag und Stunde
der Aufgabe, sowie das betreffende Postamt feststellen.
Ter Beamte, welcher die Sendung übernommen hatte,
glaubte sich erinnern zu können, daß ein Dienstmann
dieselbe überbracht habe. Es war nun Wohl anzu-
nehmen, daß der Dienstmann das ihm nächstgelegene
Postamt ausgesucht habe, das heißt, es gestattete den
Schluß, daß er in der Nähe desselben seinen Stand-
platz haben dürfe. Der Polizeidirektor beauftragte daher
einige Geheimpolizisten, die Dienstmänner in der Um-
gebung des Postamtes auszuholen, um so Denjenigen
zu finden, der die Sendung aufgegeben hatte. Der
Begleitschein wurde ebenfalls einer genauen Untersuchung
unterzogen. Die Schriftzüge boten vorerst keine An-
haltspunkte; wohl aber entdeckte ein Beamter schwache
Spuren eines Blaustcmpel-Druckes, und nach vieler
Mühe gelang es, mit einiger Sicherheit drei Buchstaben
nachzuweisen, nämlich U Ü U ... Es war nun bekannt,
daß die Portiers der größeren Hotels postanitlichc
Scheine und Drucksachen zur Verfügung der Gäste
halten, und dabei die Gepflogenheit haben, den Hotel-
stempel auf diese Papiere aufzudrückeu. Es geschieht
dies einfach zu Reklamezwecken. Die entzifferten Buch-
staben wiesen nun auf das Hotel Rhein hin, einen Gast-
hof zweiten Ranges, der jedoch viel besucht wurde.
Namentlich Geschäftsreisende und Landwirthe, die nach
der Hauptstadt kamen, zählten zu dessen ständigen
Kunden.
Inzwischen gelang es wirklich, den Dienstmann aus-
zuforschen, welcher jene Sendung auf das Postamt
gebracht hatte. Er gab an, daß ihm das Kistchen auf
der Straße von einem elegant gekleideten Herrn über-
geben worden sei; eine genaue Beschreibung der Person
vermochte er zwar nicht zu geben, Wohl aber behauptete
er, den Herrn wieder zu erkennen, falls er ihn sähe.
Er erhielt nun den Auftrag, sich in der Nähe des
Hotels Rhein aufzuhalten — in Begleitung eines
Geheimpolizisten natürlich — und die Ein- und Aus-
gehenden zu beobachten.
Die Beobachtung des Hotels schien kein Resultat
zu ergeben; zwei Tage schon trieb sich der Dienstmann
in dessen Nähe herum, ohne daß er jenen Fremden
bemerkt 'hätte. Man mußte sich daher in Geduld
fassen und abwarten, welche Ergebnisse die anderen
Nachforschungen haben würden. Diese bedurften Zeit, da
es viele Schreibereien und Erhebungen gab, betrafen
diese ja eine ziemliche Anzahl von Personen, von denen
man nicht viel mehr wußte, als den Namen, welchen sie
in das Fremdenbuch des Hotels eingetragen hatten.

Oskar Pflegte während seines Aufenthaltes in der
Residenz die Abende im Kreise der alten Freunde zuzu-
bringen, welche fast sämmtlich der Armee angehörten.
An dem letzten Abende fand jedoch aus irgend einem
Anlasse ein großes Offiziers-Diner statt, an welchem
jene Freunde theilnehmen niußten. Er hatte daher
seine Zeit frei; die Theaterstunde hatte er versäumt,
da er einen ausführlichen Brief an den Freiherrn ge-
schrieben, und so beschloß er, um die Stunden des Abends
hinzubringcn, ein Vergnügungslokal aufzusuchen, in
welchem sich Akrobaten, Gesaugskomiker und ähnliche
„Künstler" produzirten. Das Lokal war stets sehr be-
sucht, und Okar erhielt, da er etwas spät kam, nur
noch einen Sitz in einer Loge, in welcher sich bereits
ein Herr befand.
Rednitz hatte nicht die Gewohnheit, mit Fremden
Gespräche anzuknüpfen; er hatte beim Betreten der
Loge den Herrn gegrüßt, ihn aber weiter nicht beachtet.
Uebrigens schien auch dieser sich in einer kühlen Zurück-

haltung zu gefallen und seine ganze Aufmerksamkeit
den Produktionen zu widmen. Bereits waren mehrere
Nummern des Programms vorüber, als ein „Tanz
orientalischer Odalisken" an die Reihe kam. Das Pro-
gramm enthielt zwar die Versicherung, daß die Lda-
liskcn „echt" seien, Oskar erkannte jedoch bald, was
es mit dieser Echtheit für eine Bewandtniß habe.
Uebrigens waren die Tänzerinnen hübsch, das Kostüm
phantastisch und Musik wie Tanz hatten in der That
etwas von orientalischem Charakter an sich; ein Kenner
des Orients freilich konnte nicht getäuscht werden.
Was lag übrigens daran, Wenn nur die Produktion
dem großen Publikum gefiel.
Noch während derselben wandte sich der Fremde
an Oskar mit der Bemerkung: „Recht hübsch, aber
das sind weder Odalisken, noch ist der Tanz ein orien-
talischer. Das hat ein heimischer Balletmeister arran-
girt."
Oskar nickte nur zustimmend, er wünschte nicht, in
ein Gespräch verwickelt zu werden. Der Fremde mochte
wohl dieses Schweigen dahin deuten, daß Oskar ein
Urtheil nicht zu äußern wage, weil er die Sache nicht
kenne, und fuhr daher fort: „Ich habe zufällig längere
Zeit im Orient gelebt und wirkliche Original-Tänze
und Tänzerinnen gesehen. In Konstantinopel und
Smyrna —"
„Sie waren in Smyrna?" Oskar's Interesse wurde
mit einem Male rege.
„Ja; einige Monate. Ich bin viel in jenen Gegen-
den herum gekommen, war ja lange genug in türki-
schen Diensten."
„In der Verwaltung?" fragte Oskar.
„Nein, ich diente in der Armee. Mir behagte aber
der Dienst nicht mehr, obwohl man mir einen höheren
Rang anbot, und so ging ich. Ich war froh, als ich
das Land wieder hinter mir hatte."
„Sie waren Offizier in der türkischen Armee und
lebten in Smyrna," sagte nach einer Weile Oskar,
dem eine alte halbvergessene Geschichte in Erinnerung
kam, „haben Sie einen Major Namens Sadullah Bey
gekannt?"
Der Fremde fuhr auf seinem Sitze herum und starrte
Oskar mit weitgeöffneten Augen an. „Sa — Sadul-
lah?" brachte er mühsam über die Lippen. „Wie
kommen Sie auf diesen Namen?"
Das Benehmen des Fremden mußte Oskar in hohes
Erstaunen versetzen. „Haben Sie ihn gekannt?" fragte
er nochmals mit einem forschenden Blicke auf den
Nachbar, der noch immer fassungslos schien.
„Er ist ja todt!" gab er endlich zur Antwort.
„Ja wohl; er ist todt. Wissen Sie die näheren
Umstände?"
„Was kümmert das mich," entgegnete Jener rauh,
„wir waren mit einander nicht befreundet." Er nahm
das Opernglas zur Hand und sah auf die Bühne, da
soeben wieder eine neue Produktion begann; inmitten
derselben erhob sich der Fremde, grüßte flüchtig und
verließ die Loge. Er sah etwas bleich aus und schien
es 'zu vermeiden, Oskar in's Auge zu blicken. Die
auffallende Hast, mit der er sich entfernte, machte
Rednitz stutzig, sie glich einer förmlichen Flucht.
Nach kurzer Ueberlegung beschloß Oskar, wenn es
noch möglich sei, dem Fremden zu folgen. Als er das
Foyer betrat, bemerkte er, wie Letzterer eben dem Aus-
gange zuschritt. Da die Straße, in welcher das Lokal
lag, um diese Stunde wenig belebt war, so wurde es
Oskar nicht schwer, seinen Manu im Auge zu behalten,
und er folgte ihm in nicht allzu großer Entfernung,
jedoch stets darauf bedacht, daß Jener ihn nicht bemerke.
Der Fremde ging sehr rafch und verschwand schließlich
im Thore eines Hotels. Die Verfolgung hatte für
diesmal ein Ende.
Am nächsten Vormittag fand sich Oskar v. Rednitz
bei dem Polizeidirektor ein, um sich zu erkundigen, ob
in der Sache irgend etwas Neues entdeckt worden wäre.
Diesmal empfing ihn der Polizcidirektor mit einer
lebhaften Miene, welche auf etwas Ungewöhnliches
hindeutete. „Eine gute Nachricht," rief er dem ein-
tretenden Oskar zu, „wir haben den Gesuchten, das
heißt, wir glauben ihn gefunden zu haben. Eine
Täuschung wäre ja doch immerhin möglich. Der Zu-
fall half uns, wie so oft, auch iu diesen: Falle. Jener
Dienstmann, den wir schon seit einigen Tagen vor dem
Hotel Rhein Wache halten ließen, ohne Erfolg, wie
Sie wissen, ging heute früh Morgens zufällig vor den:
Hotel -Zum Kurfürsten' vorüber und sah da den Herrn,
den wir suchten, eben in einen Wagen steigen. Er
hatte Gepäck bei sich und allen Anzeichen nach wollte
er abreisen. Der Mann ist findig und klug, er er-
kundigte sich rasch bei den: Portier, wohin der Herr
fahre, und erhielt zur Auskunft: Nach dem Ostbahn-
hofe. Er nahm nun eine Droschke, fuhr hieher auf
das Bureau und verständigte den journalführendcn
Beamten davon, welcher ihn: zwei Agenten mitgab,
mit denen er nun so rasch als cs nur ging nach den:
Ostbahnhofe fuhr. Sie kamen gerade noch vor Ab-
gang des Zuges zurecht, trafen den Herrn auf dem
Perron und verhafteten ihn natürlich sofort. Ich habe

mir Vorbehalten, selbst das erste Verhör zu leiten, und
ich lade Sie, als Bevollmächtigten des Freiherrn
v. Kelling, ein, demselben beizuwohnen. Ich werde den
Verhafteten sogleich vorführen lassen."
Der Polizeidirektor berührte den Taster des Läute-;
Werkes und ertheilte dem cintretenden Amtsdiencr den
bezüglichen Befehl. Wenige Minuten später erschien,
von einem Schutzmanns begleitet, der Verhaftete in
den: Gemache. Mit begreiflicher Neugierde betrachtete
Oskar den Mann, und erkannte zu seinem Erstaunen —
seinen Logennachbar Von gestern, den Herrn, welcher
mit Sadullah Bey — „nicht befreundet" gewesen war.
16.
Oskar hatte sich etwas in den Hintergrund zurück-
gezogen und abgewendet, damit der Verhaftete ihn nicht
sofort wieder erkenne. Uebrigens schien sich dieser gar
nicht um ihn zu kümmern, sondern ging geradewegs
auf den Polizcidirektor zu und sagte in brüskem Tone:
„Sie sind der Herr Polizeidirektor, wie man mir sagte,
von dieser Stadt? Vermuthe, daß Sie mir Genug-
tuung geben wollen für den Schimpf, welchen nur Ihre
Leute haben angethan."
Er sprach n:it einen: Anfluge von englischem Accent
und setzte auch seine Worte etwas ungewöhnlich; Oskar
erhielt jedoch den Eindruck, als ob dies absichtlich ge-
schähe.
„Sie geben an, John Wilke zu heißen und ameri-
kanischer Staatsbürger zu sein. Haben Sie Papiere,
welche diese Angaben bestätigen?"
„Papiere? Wozu das? In Amerika fragt Nie-
mand nach Papieren."
„Wir befinden uns aber in Europa. Sie besitzen
also keine Nachweise?"
„Nein," gab Jener rauh zur Antwort.
„Sind Sie in Amerika geboren?"
„Ich bin ein Elsässer, vor Jahren nach Amerika
eingewandert."
„Ihr Geburtsort?"
Der Verhaftete zögerte ein wenig, endlich sagte er:
„Mülhausen."
„Ihr Alters
„Siebenundvierzig Jahre. Katholischer Religion,
unverheiratet," setzte Wilke rasch hinzu.
Während der Beamte diese Angaben in das Pro-
tokoll eintrug, bemerkte der Polizcidirektor lächelnd:
„Sie scheinen ja das Verfahren bei Verhören sehr gut
zu kennen, weil Sie jetzt auf einmal Ihr Nationale
so korrekt angeben. Weshalb sind Sie jetzt nach Europa
gekommen?"
„Ich wollte eine Vergnügungsreise unternehmen;
dabei mich auch umsehcn, ob ich vielleicht hier ein
Geschäft errichten könne."
„Wie lange hielten Sic sich in unserer Stadt auf?"
„Etwa vier Monate."
„Und Sie haben während dieser Zeit mit Nieman-
den: verkehrt?"
„Ich begreife alle diese Fragen in der That nicht."
Man sah es dem Verhafteten an, daß er etwas un-
ruhig zu werden begann.
Der Polizeidirektor machte eine kurze Pause, dann
richtete er Plötzlich die Frage an Wilke: „Kennen Sie
die Familie des Freiherrn v. Kelling auf Pürglitz?"
Nur unmerklich zuckte das Gesicht Wilke's, aber
dem Direktor war es doch nicht entgangen. „Den
Namen habe ich niemals gehört," gab nun der Ver-
haftete zur Antwort.
„Herr v. Rednitz!" rief der Direktor Oskar zu,
und dieser trat vor. Jetzt erst erblickte ihn Wilke, und
auch er — erkannte den Herrn, mit den: er gestern zu-
sammengetroffen war. Er fuhr zusammen und wurde
ein wenig bleich, als er den: Blick Oskar's begegnete.
„Ich möchte Sie bitten," wandte Rednitz sich an
den Polizeidirektor, „diesen Herrn zu fragen, ob er sich
in Smyrna aufgehalten habe."
Erstaunt sah der Direktor auf, und dieses Erstaunen
vergrößerte sich, als Wilke heftig ausrief: „Was sollen
diese alten Geschichten? Die gehen Niemanden etwas an!"
Die Aufregung, welche der Verhaftete zeigte, ließ
den Polizeidirektor vermuthen, daß die Zwischenfrage
Oskar's auf ein Geheimniß Hinweise, welches vielleicht
den Schlüssel zu anderen bieten könne. Er unterbrach
daher das Verhör und ließ Wilke abführen; dann er-
bat er sich von Oskar nähere Mittheilungen über die
Sache, auf welche jene Frage Bezug nah:::. Herr
v. Rednitz erzählte kurz den Vorfall in Smyrna und
dann das Gespräch, das er gestern mit Wilke gehabt
habe.
Inzwischen war auch das Gepäck Wilke's genau
untersucht worden, und dabei hatte man zwei wichtige
Funde gemacht. Einige kleine Gegenstände waren näm-
lich in Papier eingewickelt, und unter diesen Papieren
befand sich erstens eine Hotelrechnung aus der rheini-
schen Universitätsstadt B., und zwar gerade für die Zeit,
in welcher der Mordversuch auf Hermann gemacht
worden war, und zweitens ein Zettel, auf welchem —
von fremder Hand — eine Adresse geschrieben stand,
und diese lautete: Hermann v. Kelling, Seebad W.
 
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