DOI Artikel:
Riss, K: Sidonie St. Springer, München
DOI Seite / Zitierlink: https://doi.org/10.11588/diglit.9119#0175
SIDONIE ST. SPRINGER.
GEMÄLDE »JUGEND«
SIDONIE ST. SPRINGER-MÜNCHEN.
Die expressionistische Welle, die derzeitüber
uns hinwegspült, ist vielleicht nichts als
eine energische Auflehnung gegen die einseitig
auf Rezeptivität gestellte Kunstübung der im-
pressionistisch orientiert gewesenen letzten
Jahrzehnte. Ein nicht vorwiegend von außen-
her seine Befruchtung holender Maler hat heute
deshalb wohl erhöhte Aussicht, beachtet zu
werden.
Freilich, jenes tastende, taumelnde Suchen,
aus den Rapporten unserer Sinne ein neues
Pathos nachtwandlerisch herauszuholen, diese
Art von Neutönertum hat Sidonie St. Springer
nicht. Dazu hat sie ein viel zu inniges Hin-
gebungsbedürfnis an die Welt, die „herrlich wie
am ersten Tag" vor ihrem Auge steht. Es ist
ein Auge, trunken von Schönheit und doch scharf
und klar wie nur eines; und diesem Augegehorcht
eine Hand von ungewöhnlicher Zucht und Fein-
fühligkeit. Die Liebe, mit der die Künstlerin
einer Linie nachspürt und das Strukturelle von
Baum, Fels oder Menschenleib in sein Ober-
flächenbild hineinlegt, dieses Niedersinken vor
der Natur „in aller Einfalt des Herzens" läßt uns
unwillkürlich an die englischen Präraffaeliten
denken. Und auch das erinnert an diese Brü-
derschaft, daß eine stark dichterisch betonte
Geistigkeit in dieser Malerin nach Gestaltung
drängt. Der Ideenkreis, in dem die Lyrismen
ihrer Seele spielen und schwingen, steht aller-
dings dem der deutschen Romantik näher.
In Deutsch-Böhmen geboren, hat die Künst-
lerin ihre ersten Studienjahre in Prag verlebt.
Und Prag mit seinen zerfallenen Kirchhöfen,
seinem in verwittertemSteingeisterndenBarock,
seiner strotzend reichen Geschichte, dieses Prag
mit seiner Atmosphäre, in der sich uralte, gegen-
sätzliche Kulturen phosphoreszierend reiben,
mag ihrer Romantik einen Zusatz östlich-
schwermütiger Elemente gegeben haben.
XXII. Nov.-Dez. 1918. 5
GEMÄLDE »JUGEND«
SIDONIE ST. SPRINGER-MÜNCHEN.
Die expressionistische Welle, die derzeitüber
uns hinwegspült, ist vielleicht nichts als
eine energische Auflehnung gegen die einseitig
auf Rezeptivität gestellte Kunstübung der im-
pressionistisch orientiert gewesenen letzten
Jahrzehnte. Ein nicht vorwiegend von außen-
her seine Befruchtung holender Maler hat heute
deshalb wohl erhöhte Aussicht, beachtet zu
werden.
Freilich, jenes tastende, taumelnde Suchen,
aus den Rapporten unserer Sinne ein neues
Pathos nachtwandlerisch herauszuholen, diese
Art von Neutönertum hat Sidonie St. Springer
nicht. Dazu hat sie ein viel zu inniges Hin-
gebungsbedürfnis an die Welt, die „herrlich wie
am ersten Tag" vor ihrem Auge steht. Es ist
ein Auge, trunken von Schönheit und doch scharf
und klar wie nur eines; und diesem Augegehorcht
eine Hand von ungewöhnlicher Zucht und Fein-
fühligkeit. Die Liebe, mit der die Künstlerin
einer Linie nachspürt und das Strukturelle von
Baum, Fels oder Menschenleib in sein Ober-
flächenbild hineinlegt, dieses Niedersinken vor
der Natur „in aller Einfalt des Herzens" läßt uns
unwillkürlich an die englischen Präraffaeliten
denken. Und auch das erinnert an diese Brü-
derschaft, daß eine stark dichterisch betonte
Geistigkeit in dieser Malerin nach Gestaltung
drängt. Der Ideenkreis, in dem die Lyrismen
ihrer Seele spielen und schwingen, steht aller-
dings dem der deutschen Romantik näher.
In Deutsch-Böhmen geboren, hat die Künst-
lerin ihre ersten Studienjahre in Prag verlebt.
Und Prag mit seinen zerfallenen Kirchhöfen,
seinem in verwittertemSteingeisterndenBarock,
seiner strotzend reichen Geschichte, dieses Prag
mit seiner Atmosphäre, in der sich uralte, gegen-
sätzliche Kulturen phosphoreszierend reiben,
mag ihrer Romantik einen Zusatz östlich-
schwermütiger Elemente gegeben haben.
XXII. Nov.-Dez. 1918. 5