Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 50.1922

DOI Artikel:
Schiebelhuth, Hans: Kunst-Erlebnis
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.9143#0353

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
ENTW: G. SCHRIMPF—MÜNCHEN.

>MAJOLIKA.-SCH REIBZEUG«

KUNST-ERLEBNIS.

Es ist eine alte Tatsache, daß in allen Dingen
des Lebens auf der erhöhten Einsicht die
geschwächte Kraft der Empfindung als Preis
steht, und in der Kunst scheint der Fall so zu
liegen, als ob eine stark verständnismäßige Ein-
stellung auf Kunstgebilde, ein waches Wissen
um die Wesens- und Werkwelt des Schöpfe-
rischen den reinen Genuß trübe. Der Verstand
wäre also nachdem bei der Aufnahme vonKunst-
werken der wahre Antipode, ja der erklärte
Feind des Gefühls. Man ist nun leicht verleitet,
anzunehmen, daß ein naiver Kunstbetrachter,
der ohne jedes Verstandesrüstzeug sich nur
gefühlsmäßig einem Kunstwerke hingibt, tiefere
Beglückungen, stärkere Eindrücke, heftigere Er-
lebnisse an sich erfährt als ein wissender Be-
trachter, etwa ein Kunstgelehrter, der mit einer
Unsumme von Sach- und Fachwissen beladen,
mit reichen, vielleicht überreichen Erfahrungen
belastet und mit einer gründlichen theoretischen
Formenkunde ausgestattet, dasselbe Werk er-
lebt. Gewiß mag in diesem oder jenem Einzel-
fall der Tatbestand so liegen, daß der naive
Erleber bezaubert und der Wissende nur matt
entzückt ist, daß der ungebildete Genießer in
der Tiefe seiner Gemütsbewegung gebannt und
gepackt ist, während der kundige Versteher
nur in einer bescheidenen Höhe verstandes-
mäßigen Erregtseins schwingt, aber es ist falsch,
über solche Beispiele hinweg zu verallgemeinern,
und es erscheint gefährlich, hieraus Schlüsse
auf den objektiven Befund zu ziehen, da es eine
rein subjektive Einstellung ist und bleibt, ob

einer dem Gefühl den Vorrang vor dem Intellekt
gibt. Ein Kunstwerk ist ein völlig protei'sches
Gebilde, es läßt jede Art der Besitzergreifung
zu und gerade in seiner Wandelbarkeit und Ver-
wandlungsfähigkeit liegt sein ewiges Leben,
sein Wirkungswert über die Grenzen mensch-
licher Zeitsetzungen hinaus. So haben die Men-
schen der Renaissance gewißlich Dante und
Donatello anders erfaßt als wir Menschen von
1900, die Epochen nach uns werden dieselben
Werke wieder anders zu erleben und zu ver-
arbeiten haben. Vielleicht wurde die Werkwelt
dieser Künstler von ihren Zeitgenossen stärker
erfühlt und wird unter uns heute stärker ver-
standen, ein solcher Umstand spräche aber
weder für noch gegen eine Form des Kunst-
erlebnisses selbst. Schließlich ist noch ein
zweiter Punkt in diese Betrachtung einzube-
ziehen. Es gibt eine vorwiegend gefühlsmäßige
und eine vorwiegend verstandesmäßige Kunst-
auffassung; eine rein gefühlsmäßige, eine nur
verstandesmäßige Art, etwa so, daß in einem
Falle der Verstand ganz leer ausgeht, im andern
Falle das Gefühl durchaus darbt, gibt es nicht.
Es gibt ein hauptsächlich gehirnbeherrschtes,
wissensmäßiges Kunsterleben und dem gegen-
über ein ausgesprochen gefühlsbeherrschtes,
also naives Kunsterfassen, aber da ja ein Kunst-
werk wesentlich aus metaphysischen Kräften in
die Welt der sinnlichen Wahrnehmbarkeit er-
stellt ist, bleibt es ausgeschlossen, daß einer,
der wirklich erlebt, in der Welt des Kunstwerks
lediglich Gehirnkost oder lediglich Gefühlsbe-

343

XXV. September 1922. 4*
 
Annotationen