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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 61.1927-1928

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Düssel, Karl Konrad: Die Stuttgarter Weissenhof-Siedlung: Werkbund-Ausstellung "Die Wohnung" 1927
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https://doi.org/10.11588/diglit.9249#0104

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Die Stuttgarter Weißenhof-Siedlung

einander stehen, worauf die Kurve mit der
etwas gesucht maschinellen Form des Hauses
Scharoun abschließt. Über diesem ganzen
Häuserzug, der sich zu einem lichten Bild orga-
nisch zusammenfügt, erhebt sich der massige
Block Mies van der Rohe, gelbbraun mit
schwarzen Rahmen breiter Fensterbänder und
den T-förmigen Betonkörpern des Dachgartens
formal sehr eindrucksvoll. Das Ganze ein Bild
von eigenartiger Schönheit.

Noch stärker ist der Eindruck, wenn man
die Siedlung von der Hauptzufahrtsstraße her
überblickt. Hier wird das Auge sofort durch
die beiden Häuser Le Corbusier gefesselt. Rosa
das eine mit dem riesigen Fenster, das die
Front souverän beherrscht. Hellgrün und weiß
das andere, mit breit gelagerten, unsymmetrisch
angeordneten Fenstern. Es war ein ausge-
zeichneter Gedanke, gerade diese beiden Häuser
so dominierend in den Vordergrund zu stellen.
Sie sind wie ein Signal. Sie betonen den
Charakter der Weißenhof-Siedlung als einer
Stätte des neuen Wohnhauses. Man erhält so-
fort einen Begriff, eine lebendige Vorstellung
vom Typ des neuen Wohnhauses. Man merkt,
wohin die Richtlinien des neuen Wohnens zielen.
Diese beiden Häuser erscheinen weit geöffnet
für Licht und Luft. Nichts von Enge und
dumpfer Abgeschlossenheit. Die Lungen und
Poren des Hauses sollen weit geöffnet sein.
Und auch der Mensch, der hier wohnt, muß
wohl das Licht und alle Weite des Blicks lieben.

Kommt man näher, so steht man überrascht
und voller Bewunderung vor der Schönheit
dieser beiden Häuser. Hier ist eine völlig neue,
absolut überzeugende Form des Wohnhauses
gefunden. Die merkwürdige Art, wie diese
beiden Baukörper auf schlanken Trägern ruhen
(ja zu schweben scheinen), gibt ein neues sta-
tisches Gefühl. Und wundervoll abgewogen
sind alle Proportionen. Ganz ohne lastende
Schwere und doch kraftvoll und entschieden
bestimmt, so stehen diese beiden Häuser da.
Sieht man sie, so erhält man sofort auch eine
Vorstellung von dem Typ des Menschen, der
hier seine Wohnung hat.

Man muß ein großer und vor allem auch ein
ganz konsequenter Künstler sein, um in der
äußeren Form eines Baues schon so viel Aus-
drucksfülle zu geben. Le Corbusier ist von
allen, die auf dem Weißenhofgelände gebaut
haben, der stärkste Künstler, der souveränste
Beherrscher formaler Ideen. Seine Raumge-
staltung hat etwas Faszinierendes, seine Pro-
portionen scheinen mit einer letzten intuitiven
Sicherheit gefunden. Man begreift, daß dieser
Architekt, der in seinem programmatischen

Buche die entschiedenste Rationalisierung des
Wohnbaues, die „Wohnmaschine" fordert, auch
von der „platonischen Idee" der Baukunst
spricht und schließlich den bloßen Nützlichkeits-
techniker von dem wahren Baukünstler trennt,
indem er sagt: „Die Baukunst kündet sich an
durch innere poetische Begabung".

Le Corbusier baut aus einer Idee heraus.
Bis zur Utopie. Utopisch, weil er nicht etwa
ins Blaue hinein phantasiert, sondern bei der
Gestaltung seines Wohnhauses mit den Daseins-
beziehungen und den Bedürfnissen und Mög-
lichkeiten eines Menschen rechnet, den er als
notwendig kommend aus unseren wirtschaft-
lichen und soziologischen Verhältnissen errech-
net. Le Corbusier will nicht vermitteln und
überleiten. Er will die neue Form des Wohn-
hauses, weil er an einen neuen Sinn des Woh-
nens glaubt. Er ist ganz besessen von seiner
Idee. So ist er auch der Entschiedenste und
Konsequenteste dieser Architekten. Kein Wun-
der, daß er auch der Umstrittenste und am
heftigsten Angefochtene ist.

„Das Haus wird nicht mehr das schwerfällige
Ding sein, das den Jahrhunderten zu trotzen
sich anmaßt.... Es wird ein Hilfsmittel sein, wie
das Auto ein Hilfsmittel ist". — Und was ver-
langt Le Corbusier von diesem Haus? „Bäder,
Sonne, warmes und kaltes Wasser, Tempera-
tur nach Belieben, Aufbewahrung der Speisen,
Hygiene — Schönheit durch Proportion." Dies
ist Le Corbusiers Programm für das Haus als
eine Art Präzisionsinstrument des Wohnens.
In den beiden Corbusier-Häusern bemerkt man
aber noch etwas anderes: das Bestreben, die
Räume des Hauses möglichst zusammenzufassen
in einem Zentralraum. Die alte Gemütlichkeit
im traulichen Winkel, der friedlich und geruh-
sam zusammengeschlossene Familienkreis am
Tisch unter der abendlichen Lampe, das alles
hat im neuen Wohnhaus keine rechte Heimat
mehr. Aber vielleicht ist das alles auch schon
längst illusorisch geworden in dem rasenden
Tempo und den unerbittlich harten Anforde-
rungen unseres Lebens. Le Corbusier jedenfalls
denkt sich eine neue, weiter gespannte Har-
monie tätiger Menschen. Man schließt sich nicht
mehr ab, man genießt die Weite des Raumes
und man genießt sich selbst in ihr. So legt Le
Corbusier sein eines Haus so an, daß das Innere
völlig beherrscht wird von dem großen Wohn-
raum, der mit dem riesigen Atelierfenster in
das Zwischengeschoß hinauf geführt ist und
dort durch eine Brüstung getrennt einen Ar-
beitsraum, das Elternschlafzimmer, das Bad und
einen Ankleideraum enthält. Im Dachgeschoß
findet man noch zwei Schlafräume und die Dach-
 
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