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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 61.1927-1928

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Ritter, Heinrich: Künstliche Kindlichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.9249#0237

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INTERNAT. AUSSTELLUNG MONZA

»AUS DEM DAMENZIMMER«

KÜNSTLICHE KINDLICHKEIT

Vor mir liegt eine Zeitschrift. Es ist eine hoch-
moderne Zeitschrift; das sieht man an der
Typographie ihres Titels. Er ist mit raffinier-
ter Unbeholfenheit gezeichnet. Die Buchstaben
stehen ein klein wenig schief, die Zwischen-
räume sind willkürlich, das „S" erscheint im
Spiegelbild, die Worttrennungen am Zeilenende
sind völlig ungrammatikalisch Das Ganze sieht
nicht einmal übel aus, denke ich bei mir, und
das bedeutet, daß der Urheber seinen Zweck
bei mir erreicht hat, daß ich diese künstliche
Kindlichkeit als Reiz empfinde.

Warum verfährt der Zeichner hier mit ab-
sichtlicher Unbeholfenheit? Ein kurzer Denk-
prozeß reicht hin, um die sehr weittragende
Bedeutung dieses Vorgehens klarzustellen: es
spiegelt sich in ihm das Wehren des modernen

Individualismus gegen die Tradition, der Kampf
aller Söhne gegen die Väter. Es spiegelt sich
darin das Nicht - altern - wollen und Nicht-
altern - können der Gegenwart, alle moderne
Rebellion, alle moderne Unfähigkeit, eine Über-
lieferung mit Kraft fortzusetzen. Es spiegeln
sich darin alle Versuche der Neuzeit, durch
Seitensprünge zum Naturhaften weiterzukom-
men. Und hören wir etwa, daß das moderne
Rußland in der Absicht einer „Sexualreform"
über tausendjährige Erfahrungen der Mensch-
heit hinwegspringt und eine Libertinage ent-
fesselt, die alsbald zu unmöglichen Folgerungen
führt — so ist da im Bereich der Kultur dem
Wesen nach nichts anderes geschehen, als was
der Zeichner des erwähnten Zeitschriftentitels
im Bereich der Typographie unternommen hat.
 
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