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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 61.1927-1928

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Schürer, Oskar: Vom Antlitz der Städte
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https://doi.org/10.11588/diglit.9249#0240

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AUSSTELLUNG MONZA

»DER LAMPENRAUM«

VOM ANTLITZ DER STÄDTE

VON DR. OSKAR SCHÜRER

Beim Betrachten von Städten unterläuft meist
der gleiche grundsätzliche Fehler wie beim
Betrachten von Kirchen. Hier staunt man sich
durch die bildergeschmückte Pforte hinein in
den Innenraum, drückt sich an den Wänden
entlang, bewundert pflichtgemäß die Altäre, die
Statuen und Grabsteine, wenns hoch kommt:
ein geschmücktes Kapitell. VomRaum der Kirche,
ihrem Atem also, hat man nichts verspürt, denn
nirgends hat man sich ihm rein überlassen. Nir-
gends hat man sich unter sein Gespül gestellt,
unter das Auf und Nieder der Gewölbe, der
Kuppeln, unter die Synkopen der Seitenschiffe
und in den Kniefall des Chors. So war der Dom
ein Sammelsurium von Merkwürdigkeiten ge-
blieben, die der Baedeker verzeichnet, — sein
steinernes Gebet, sein Drama blieb ungefühlt.

So auch in Städten. Man eilt, die angeführten
Denkmäler zu besichtigen, klaubt sich die be-
merkenswerten Bauten aus dem Häusergewirr
heraus, jene Kirche, dieses Tor, ein Portal, ein
Theater. Beachtet noch einige Türme, wohl auch
einen Platz und verläßt den Ort, bereichert um
einige Details, die bald wieder in der Erinnerung
erlöschen, — ungetroffen vom Rhythmus, der
hier schwingt, unbeladen vom Eindruck eines
starken Organismus, der sich da aus Zweck und
Zeit und Kunst geformt, und der sein Eigenleben
führt, seine Eigenphysiognonie behauptet als
Form, wie nur irgend ein gewordenes Wesen.

Beidemale der gleiche Mangel als Ursache:
Hier und dort handelt es sich um architektonische
Phänomene. Und vor nichts ist der heutige
Mensch so hilflos wie vor Architektur. Da er
jenes Organ, dessen Aufnahmefähigkeit die Ar-
chitektur vor allem beansprucht, längst zu ge-
brauchen verlernt hat: das Raumgefühl. Das
Raumgefühl reagiert architektonisch: es reißt in
die Mitte und läßt von da aus das Ganze aus-
strahlen. Raumgefühl drängt also in seiner Ver-
wirklichungimmer zumKern, und so zum Ganzen.
Ihm steht das Körpergefühl gegenüber, — eben
jenes, das durch unsere falsche Einstellung zu
den Epochen der Kunst, durch unser einseitiges
Überschätzen der Renaissance, so sehr das Über-
gewicht in unserm formalen Weltaufnehmen ge-
wonnen hat. Das Körpergefühl vereinzelt, drängt
zum Individuellen. In unserm Zusammenhang:
zum einzelnen Denkmal, — und negiert die Bin-
dung im Ganzen. Es reagiert plastisch. Es wird
in einer Stadt das einzelne Bauwerk, an diesem
das einzelne Detail (vielleicht ein Portal) und an
diesem wieder das einzelne Ornament genießen.
Das Ganze aufzunehmen, den Charakter einer
Stadt, eines Doms als eines im Raum verwirk-
lichten Wesens zu spüren, das bleibt ihm ver-
sagt. Das aber verlangen die Dome, die Städte.
Denn in ihnen schafft der Raum, in ihm der
Rhythmus, sein Atem, er, der Gestalter dieser
formhaften Wesen unserer äußeren Wirklichkeit.

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