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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 61.1927-1928

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Roessler, Arthur: Gibt es noch deutsche Kunst?
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https://doi.org/10.11588/diglit.9249#0297

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Gibt es noch deutsche Kunst?

Künstler 'gestalten mehr Begriff als Anschau-
ung, mehr Gedanken als Erscheinungen. Der
Amerikanismus einerseits, der bolschewikische
Kollektivismus andererseits, soviel von beiden
bisher auch übernommen wurde, ist den Deut-
schen etwas Äußerliches geblieben, ist nicht bis
in ihr, im Innersten immer noch gotisch geblie-
benes, Wesen gedrungen. Mystiker des Stoffes
auch, nicht nur des Geistes, fühlen die Deut-
schen sich dazu getrieben, auch als Künstler
sich mit der Welt denkend auseinanderzusetzen.
Ihr Denken wächst unablässig aus einer edlen
Sehnsucht hervor: dem mit lauterem Wollen in
opferbereitem Tun angestrebten Wunsch nach
Schöpfung eines neuen, volksumfassenden My-
thos. Die deutschen Künstler trachteten dar-
nach auf den Wegen des Christentums, der Ge-
schichtsphilosophie wie auch derpantheistischen
Naturphilosophie, vermochten aber nicht dahin
zu gelangen, weil es zur Erfüllung dieses so
reinen wie schönen Verlangens der langzeitigen
Zusammenarbeit des ganzen Volkes bedarf.

Als ein Volk ohne Kunst sind die Deutschen
in die Geschichte eingetreten. Ihre ästhetische
Begabung äußerte sich wohl mit bewunderungs-
würdiger Kraft in Sprache, Religion und Recht,
aber nur in geringer Art in der bildenden Kunst.
Was auf diesem Gebiete zunächst aufscheint,
das war Lehngut und blieb dies bis in die Zeit
Karls des Großen. Zur ersten großen und gleich-
mäßigen Blüte aller Künste in Deutschland kam
es erst im 13. Jahrhundert, zur zweiten, noch
üppigeren und gestaltungsreicheren Blüte in der
Zeit von 1430 bis 1530. Nie zuvor und nach-
her noch nicht wieder war die gesamte Masse
des deutschen Volkes von ebenso leidenschaft-
lichem Verlangen nach Kunst in allen Teilen
des täglichen Lebens erfüllt, wie in jener Zeit.
Damals war die Kunst die stärkste Macht der
vielen starken Mächte nationalen Lebens, und
je mehr sich das letztere erhob und entfaltete,
umso schöpferischer wurde die vormals rezep-
tive Kunst in Deutschland. Doch die Kata-
strophe folgte allzubald. In den erregten, zor-
niger Widersacherei und wilden Streites über-
vollen Jahrzehnten vor der Reformation ver-
schob sich bereits alles zu Ungunsten der Kunst;
die Niederwerfung der revolutionären Bauern-
bewegung unterdrückte hernach noch ihre zweite
Lebensquelle und der dreißigjährige Krieg führte
vollends ihren Verfall herbei. Was dann später
und nur allmählich aus dem Schutt der Kultur-
wüste zaghaft hervorwuchs, das blieb, im Ver-
gleich zur Prachtfülle der Gotik wenigstens,
Kümmerlingskunst, bis zur treibhausblütenhaften
Üppigkeit des Barock, einer nicht organisch aus
deutschem Volkswesen naturwüchsig entstan-

denen, sondern wieder nur rezeptiven Kunst.
— Und seither ? — Mit rückwärtsgewandter Welt-
anschauung begann das Jahrhundert Goethes
und Winkelmanns. Zwar stritt mit dem helle-
nistischen Klassizismus das ideenromantische
Nazarenertum um den Vorrang, doch war es
im Innersten von der gleichen grauen, trockenen
Dürre und Unfruchtbarkeit wie jenes. Kaum
beachtet, und wenn doch, sodann mit hoch-
mütiger Geringschätzung als schrullenhafte Ein-
zelgänger im Winkeldunkel der Verschollenheit
gelassen, mühten sich einige, ihrer Volksart
bewußte und auf sie stolze Könner mit viel
gutem Willen um das Außerordentliche, das
zugleich doch auch das Volksgemäße sein sollte:
gemütshafte, dabei auf unmittelbare Wirklich-
keitsanschauung gegründete Kunst. Viele tüch-
tige Männer setzten seither ihre ganze Kraft
daran, dem sinnlichen Lebensgefühl in der Kunst
zum Siege zu verhelfen, viele andere, nicht min-
der begabte, kämpften um den Triumph streng
formal gefaßter Daseinsbegriffe, ohne daß es
bisher in diesem Kampf zu einer Entscheidung
gekommen wäre, hätte kommen können, weil
die Kunst, als Ausdruck des Zeitgeistes gewer-
tet, in den wilden Wirbel der gewaltigen Um-
wälzungen mit hineingezogen wurde, die schick-
salhaft über Europas Staatengebilde herein-
brachen. Wohin die manigfaltigen, scheinbar
einander unvereinbar widerstreitenden Beweg-
ungen der einzelnen Kunstparteien die Kunst
selbst führen mögen, ob auf- und vorwärts oder
nieder- und rückwärts, das wird erst in der
Zukunft klar erkannt werden; aber heute schon
vermögen die Werke zeitgenössischer deutscher
Meister all jenen, die starker Augenerlebnisse
fähig sind, die tröstliche Erkenntnis zu ver-
mitteln, daß es nicht nur in dem als eklekti-
zistisch verrufenen 19. Jahrhundert, sondern
auch in dem für brutal materialistisch-mechanisch
gehaltenen 20., bei den Deutschen nicht nur
eine problematische Kunst hohen Wollens, son-
dern auch eine jenseits aller Anfechtung stehende
Kunst ungemein hohen Könnens gibt. Eines
Könnens von solcher Art und Macht, daß für
die nächste Zukunft eine in Tiefen deutschen
Volkswesens verwurzelte Kunst erwartet wer-
den darf, von einer Kulturwertigkeit, wie sie
ganze Perioden vergangener Zeiten nicht be-
saßen. Allerdings nur dann erwartet werden
darf, wenn das deutsche Volk, vorab seine füh-
renden Männer es bedenken und darnach han-
deln wollen, daß die Kunst eine „der größten
und wichtigsten Mächte des menschlichen Le-
bens ist, die allen jenen Dingen des Daseins,
die nur Mittel sind, als menschlicher Selbst-
zweck vorangeht." ............... A. R.

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