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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 61.1927-1928

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Schwabacher, Sascha: Zur Ästhetik unserer Zeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.9249#0462

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Zur Ästhetik unserer Zeit

führt das Bewußtsein von den physikalischen
Gesetzen des Organismus, von den dynamischen
Kräften der Muskeln und Sehnen, zu einer nie
dagewesenen klaren und prägnanten Technik.
Die unerhörten Rekordleistungen unserer Tage
fußen auf der streng wissenschaftlichen Zucht
des Trainings. Auch hier (man kann es am
schönsten unter der scharfen Kritik der Zeit-
lupenaufnahmen beobachten) bringt präzise
und sachliche Leistung ästhetisch wohlgefällige
Formerscheinung hervor.

Der Esprit der Mode griff die blanke Smart-
heit des Maschinenstils gleichsam als neuen
Effekt auf, ohne daß sie deshalb ihre ange-
borene Willkür, ihr Recht auf Launenhaftigkeit,
aufgibt. Der Winterpelz, der der Dame nur bis
zum Knie reicht und seidenbestrumpfte Beine
der Kälte aussetzt, stellt in kühnem Spiel die
neue Sachlichkeit, ja selbst die Aufgabe der
Kleidung als Schutz des Körpers zu dienen,
kokett in Frage. Nur einzig die Sportkleidung,
und auch diese nur dem Schein zu Liebe, wieder-
holt die Zweckform, die das übrige Leben be-
herrscht. In der Mode, wie in allen Erschei-
nungen, in denen sich Urtrieb und Kultur be-
gegnen, kreuzt sich das Veränderliche und das
Ewiggleiche: das immer unabänderbare, primi-
tive Bedürfnis (in diesem Falle Wärme, Schutz,
erotischer Anziehungsdrang) und die wandel-
baren ökonomischen Zeitbedingungen.

Schließlich taucht die Vorliebe unserer Zeit
für das Mechanische unerwartet und fast ko-
misch in einer der lockersten und depravier-
testen Zeiterscheinungen auf: in Revue und
Kabarett. In dem massenhaften und scharf-
kantigen Auf und Nieder von Dutzenden nackter
Mädchenbeine verleugnet sich gleichsam der
organische Eros zu Gunsten einer ins Maschi-
nelle pervertierten Reizung. Aber am Schwierig-
sten und Unentwirrbarsten verflechten sich neue
und alte Tendenzen in der bildenden Kunst. Die
modernste Bewegung will unter Ausschaltung
jeder individuell (romantischen) Eigenart eine
objektiv (sachliche) Schau der Umwelt erzwingen.
Aber solange Bilder und Skulpturen handwerk-
licher Herstellung bedürfen, solange in die Ar-
beit des Pinsels oder Meißels die natürliche und
seelische Besonderheit des Individuums einfließt,
solange wird jedes Werk der bildenden Kunst
seine individuell organische Beschränkung und
individuelle Überlegenheit vor der Maschine
behalten. Wenn Kunst sich nicht selbst ad ab-
surdum führen soll, muß das Seelenhaft-Leben-
dige sich durchsetzen gegen den Apparat. Die
schöpferische Idee bleibt im urmenschlichen
Sein verankert, nur in geschmacklichen Ten-
denzen wird der Zeitstil fühlbar sein. —

Von allen Künsten gewinnt einzig die Archi-
tektur ihren Gehalt aus ihrem Bezug auf das
äußere Leben, aus ihrem Zweckinhalt, während
sonst in der bildenden Kunst Tendenz und
Zweck artfremde Zutaten sind. Schon seit Ende
des vorigen Jahrhunderts wagte die Baukunst
in kühner Nacktheit die neuen Schwung- und
Tragkräfte des Eisenbetons zu bekennen.

Die immer wachsenden Größenverhältnisse
drängten von selbst zu immer reinerem Zweck-
bau in technischen und wirtschaftlichen Anlagen
(Brückenspannungen, Hallenwölbungen, Fabri-
ken). Die Pläne Le Corbusiers, in Frankreich
ganze Städtezentren aus Hochhausgeschäfts-
bauten und breiten Autoalleen anzulegen, führen
auf dieser Bahn weiter. Wohnung und Ein-
familienhaus sind jedoch in diesem Ringen um
einen Stilausdruck umstritten. Die Wohnsied-
lungen der neuesten Art entstanden auch in
Deutschland aus dem Bedürfnis mit knappsten
Mitteln hygienische und bequeme Wohnungs-
möglichkeiten für die große Masse der nach dem
Krieg Wohnungslosen zu beschaffen. Dieser
neue Wohnungsstil stammt also — vielleicht
zum ersten Mal in der Geschichte — nicht aus
dem Luxus der Oberschichten, sondern aus den
Forderungen der Bedürftigen. Trotzdem hat
er Aussicht, sich auch in den Wohnungen der
begüterten Klasse durchzusetzen, wenn er die
Härte und den Puritanismus überwindet, der
von manchen, neuwerklichen Kreisen mit dem
modernen Stil identifiziert wird. Speziell in
Deutschland verfällt man leicht in die doktrinäre
Verlockung, künstliche Nüchternheit mit künst-
lerischer Ehrlichkeit zu verwechseln.

Auch die Innenarchitektur hat die Synthese
zwischen Konstruktionsaus druck und repräsen-
tativer oder wenigstens behaglicher Wohnkunst
erst in einzelnen Fällen gefunden. Die Nach-
frage nach echten und falschen Stilmöbeln be-
weist, daß das Bedürfnis nach moderner und
zugleich individueller Innenarchitektur noch
nicht restlos befriedigt ist.

Das neue Auto, das trotz seiner Schnittigkeit
und knappen Form die üppigste Komfortabilität
aufweist, dürfte hier richtungsbildend sein. Es
existiert ja neben der heute internationalen
Welt der Arbeit eine ebenso wichtige, inter-
nationale Schicht, deren Luxusbedürfnis künst-
lerische Kräfte an sich zieht und bestimmt.

Neue Sachlichkeit will nicht heißen, daß der
Mensch unserer Tage zur Maschine geworden
ist. Das Lebensgefühl von heute repräsentiert
sich vielleicht am beispielhaftesten in der Ge-
bärde des modernen Tanzes: ein stürmisch
vitaler Elan, der in einem harten und exakten
Rhythmus bezwungen und verdichtet ist. sch.
 
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