LEONARDO IN
UND IN DER
FLORENZ
TOSKANA
Das Florenz der Medici stand in seiner höchsten Blüte, als Leonardo kurz nach 1460 von
seinem Heimatort Vinci nach der Hauptstadt kam* Die schlanke und doch wuchtige Kuppel von
Brunelleschi, die der Stadt ihr endgültiges und einmaliges Gesicht gegeben hat, war gerade mit
der Laterne gekrönt worden; die grossen Bauvorhaben von San Lorenzo, SS* Annunziata und
Santo Spirito waren seit kurzem zu Ende geführt oder gingen ihrer Vollendung entgegen* Begonnen
oder vielmehr neu in Angriff genommen war der Bau des Palazzo Pazzi, während sich bereits seit
Jahrzehnten auf halber Höhe des Boboli-Hügels jener mehr durch sein stilistisches Gepräge als
nur durch die Wucht der Erscheinung imponierende Palast erhob, den Brunelleschi für Luca Pitti
begonnen hatte* Von dieser Seite des Arno aus schweifte der Blick über die ausgewogene Harmonie
des in klassischem Geschmack errichteten Ruccellai-Palastes von Alberti, zu dem der Palast der
Medici von Michelozzo in seiner traditionellen Wuchtigkeit und seinem rhythmischen Aufbau in
einem grossartigen Gegensatz stand* Und diese wie die übrigen herrschaftlichen Wohnhäuser, die
Kirchen wie die Klöster waren angefüllt mit zahllosen Skulpturen und Gemälden*
Wie alt Leonardo gewesen ist, als er sich erstmals inmitten dieser Wunder bewegte, wissen
wir nicht mit Sicherheit anzugeben*
Zweifellos verrät Leonardo bereits in jener bekannten Landschaftszeichnung der Uffizien mit
dem Datum des 2* August 1473 eine ganz neue und persönliche Note, die Natur wiederzugeben
oder vielmehr zu deuten, und ebenso gewiss weist der Jüngling in dem Engel, den er in der von
den Vallombrosanern für San Salvi bei Verrocchio bestellten „Taufe Christi" gemalt hat, eine
unbezweifelbare Originalität in geistigem und formalem Sinne auf* Diesen Engel schrieb ihm bereits
1510, also noch zu seinen Lebzeiten, Francesco Albertini in der ersten Florentiner Guida zu* Ist
auch die Datierung der Altartafel noch ungewiss und umstritten, so überzeugt doch die Ansetzung
des Beginns der Arbeit in die Zeit um 1473 durch einen Vergleich zwischen dem schon etwas
leonardesken Landschaftshintergrund der Komposition mit dem eben erwähnten Blatt*
In dieser Periode, die wir die verrocchieske nennen können (um 1468-76), hatte die Werkstatt
häufig für die Medici zu arbeiten, so für das Turnier Lorenzos im Jahre 1469, für die Feste anlässlich
der Ankunft Galeazzo Maria Sforzas 1471 und für das Turnier Giulianos im Jahre 1475: Ausstattungs-
aufträge, die Leonardo zweifellos interessiert und seinen genialen Erfindergeist angeregt haben
dürften* Dieser Zeit schreibt Vasari auch mehrere inzwischen verloren gegangene Werke zu, so
einen Karton für einen Vorhang mit der Darstellung von Adam und Eva, das berühmte „Rädchen";
das ihm vom Vater für einen Bauern in Vinci in Auftrag gegeben wurde, die sogenannte „Madonna
della Caraffa", die Zeichnung eines, das Vergilsche „Quos Ego" interpretierenden Neptun und
zuletzt die berühmte „Medusa"*
Und dieser Periode gehören auch, wenngleich sie von diesem Biographen nicht erwähnt
werden, die „Verkündigungen" des Louvre und der Uffizien an*
Die erstgenannte, die trotz gewisser Unsicherheiten doch bereits eine Neuartigkeit des Gefühls
und der ganzen Auffassung verrät, dürfte auf 1469 bis 1470 datiert werden* Sollte sie aber, wie von
einigen Seiten angenommen wurde, einen Teil der Predella der verrocchiesken Altartafel des Domes
Der durch den Strang Hingerichtete
Baroncelli, Mörder von Giuliano de'
Medici - Sammlung Bonnat - Paris
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UND IN DER
FLORENZ
TOSKANA
Das Florenz der Medici stand in seiner höchsten Blüte, als Leonardo kurz nach 1460 von
seinem Heimatort Vinci nach der Hauptstadt kam* Die schlanke und doch wuchtige Kuppel von
Brunelleschi, die der Stadt ihr endgültiges und einmaliges Gesicht gegeben hat, war gerade mit
der Laterne gekrönt worden; die grossen Bauvorhaben von San Lorenzo, SS* Annunziata und
Santo Spirito waren seit kurzem zu Ende geführt oder gingen ihrer Vollendung entgegen* Begonnen
oder vielmehr neu in Angriff genommen war der Bau des Palazzo Pazzi, während sich bereits seit
Jahrzehnten auf halber Höhe des Boboli-Hügels jener mehr durch sein stilistisches Gepräge als
nur durch die Wucht der Erscheinung imponierende Palast erhob, den Brunelleschi für Luca Pitti
begonnen hatte* Von dieser Seite des Arno aus schweifte der Blick über die ausgewogene Harmonie
des in klassischem Geschmack errichteten Ruccellai-Palastes von Alberti, zu dem der Palast der
Medici von Michelozzo in seiner traditionellen Wuchtigkeit und seinem rhythmischen Aufbau in
einem grossartigen Gegensatz stand* Und diese wie die übrigen herrschaftlichen Wohnhäuser, die
Kirchen wie die Klöster waren angefüllt mit zahllosen Skulpturen und Gemälden*
Wie alt Leonardo gewesen ist, als er sich erstmals inmitten dieser Wunder bewegte, wissen
wir nicht mit Sicherheit anzugeben*
Zweifellos verrät Leonardo bereits in jener bekannten Landschaftszeichnung der Uffizien mit
dem Datum des 2* August 1473 eine ganz neue und persönliche Note, die Natur wiederzugeben
oder vielmehr zu deuten, und ebenso gewiss weist der Jüngling in dem Engel, den er in der von
den Vallombrosanern für San Salvi bei Verrocchio bestellten „Taufe Christi" gemalt hat, eine
unbezweifelbare Originalität in geistigem und formalem Sinne auf* Diesen Engel schrieb ihm bereits
1510, also noch zu seinen Lebzeiten, Francesco Albertini in der ersten Florentiner Guida zu* Ist
auch die Datierung der Altartafel noch ungewiss und umstritten, so überzeugt doch die Ansetzung
des Beginns der Arbeit in die Zeit um 1473 durch einen Vergleich zwischen dem schon etwas
leonardesken Landschaftshintergrund der Komposition mit dem eben erwähnten Blatt*
In dieser Periode, die wir die verrocchieske nennen können (um 1468-76), hatte die Werkstatt
häufig für die Medici zu arbeiten, so für das Turnier Lorenzos im Jahre 1469, für die Feste anlässlich
der Ankunft Galeazzo Maria Sforzas 1471 und für das Turnier Giulianos im Jahre 1475: Ausstattungs-
aufträge, die Leonardo zweifellos interessiert und seinen genialen Erfindergeist angeregt haben
dürften* Dieser Zeit schreibt Vasari auch mehrere inzwischen verloren gegangene Werke zu, so
einen Karton für einen Vorhang mit der Darstellung von Adam und Eva, das berühmte „Rädchen";
das ihm vom Vater für einen Bauern in Vinci in Auftrag gegeben wurde, die sogenannte „Madonna
della Caraffa", die Zeichnung eines, das Vergilsche „Quos Ego" interpretierenden Neptun und
zuletzt die berühmte „Medusa"*
Und dieser Periode gehören auch, wenngleich sie von diesem Biographen nicht erwähnt
werden, die „Verkündigungen" des Louvre und der Uffizien an*
Die erstgenannte, die trotz gewisser Unsicherheiten doch bereits eine Neuartigkeit des Gefühls
und der ganzen Auffassung verrät, dürfte auf 1469 bis 1470 datiert werden* Sollte sie aber, wie von
einigen Seiten angenommen wurde, einen Teil der Predella der verrocchiesken Altartafel des Domes
Der durch den Strang Hingerichtete
Baroncelli, Mörder von Giuliano de'
Medici - Sammlung Bonnat - Paris
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