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Leonardo
Leonardo da Vinci — Berlin, 1943

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https://doi.org/10.11588/diglit.42331#0512

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HYDRAULISCHE UND NAUTISCHE STUDIEN

Wenn man vom Werke eines grossen Mannes spricht, indem man seine Schöpfungen verzeichnet
und beschreibt, sowohl diejenigen, welche die Materie geformt und sich so der Nachwelt überliefert
haben, als auch die viel zahlreicheren, die im Entwurf oder kaum in einer Skizze auf uns gekommen
sind, so löst man damit allem nicht die Aufgabe, die wir vor uns haben: wir müssten das Werk in
seine Zeit setzen und untersuchen, wieviel von den ältesten Vorgängern auf seine Zeit über-
liefert und ihr zu eigen geworden war, wovon dann die neuen Erkenntnisse und Einsichten der
Zeitgenossen und Nachfahren Gebrauch machten* Es ist immer schwer, in dieser Weise den Beitrag
eines Mannes herauszulösen, wenn es sich darum handelt, in ferne Jahrhunderte, wie die Zeit, in
der Leonardo lebte, zurückzugehen und ganz besonders schwierig ist es, wenn es sich um hydrauli-
sche und nautische Studien handelt; denn es ist uns kein Text überliefert, der zu jener Zeit Kennt-
nisse in der praktischen Technik verbreitet hätte, noch gibt es auf längere Zeit hin einen Schriftsteller,
der sich mit angewandter • Hydraulik beschäftigt hätte, bis die Entwicklung der mathematischen
Analyse im 18* Jahrhundert das rechnerische Fundament zur Prüfung dieser Probleme geliefert hat*
Mithin bleiben uns die Werke allein, und deren Urheber ist fast immer unbekannt* So können wir
lediglich schliessen, was Leonardo alles hätte lernen können, wenn das gesamte technische Erbgut,
das die Menschheit bis zu seiner Zeit gesammelt hatte, zu seiner Verfügung gestanden hätte* Nie
werden wir wissen können, was er von anderen zu lernen das Glück hatte gegenüber dem, was
eigene Beobachtung ihm eingab, und was sein wunderbarer Geist ausarbeitete*
Sohn der toskanischen Erde, aus einer Rasse von Wasserbauern, die den Römern Lehrmei-
ster in in einer unvergleichlichen Technik gewesen ist, welche sie aus dem minoischen Orient mit-
gebracht hatte, schöpfte Leonardo die ersten Elemente seiner hydraulischen Kenntnisse aus der
Anschauung der physischen Erscheinungswelt, gewissermaszen vermittels einer rätselhaften atavi-
stischen Erbschaft* Tatsächlich gab es in Toskana zur Zeit seiner Jugend keine hydraulische Tra-
dition, noch waren seit dem Zusammenbruch der römischen Zentralgewalt im fünften Jahrhundert
Werke grossen Umfanges, die Erwähnung verdienten, ausgeführt worden; wenn deshalb anderen Ortes
unter dem Antrieb neuer Initiativen neue Erfahrungen durch die versuchten, missglückten und wieder-
begonnenen Unternehmungen gesammelt wurden, so wusste man davon in den Kreisen, in denen
der Jüngling verkehrte, nichts* So wie Oberitalien im Kreise der lombardischen Seen zwischen
Como und Campione die erneuerte Kenntnis der wichtigsten ungefähren Regeln der Baustatik
in einer Schule gebildet hatte, welche die in täglicher Arbeit vervollkommnete Kunst vom Meister
auf den Lehrling weiter gab, so sah es auf den Bauplätzen zwischen Dora und Lagune eine neue
Schule entstehen, auch sie gebildet von so vielen Männern ohne Namen, die im Kampf mit den
Schwierigkeiten die Grundlage der neuen Wissenschaft schufen: hier ist es, wo Leonardo, der
eindringende Erforscher der Erscheinungen des Weltalls, der erste unter den kühnsten Hydraulikern
wird* Diese Kunst ist hier in voller Blüte, nicht nur durch die ausgeführten Werke, sondern
auch durch die äusserst gründliche und oft schmerzliche Erfahrung: wir glauben uns nicht zu irren,
wenn wir sagen, dass die künstliche Bewässerung schon zur Zeit des Kaiserreiches unter den Juliern
ständig angewandt wurde, falls wir Vergils Vers „Claudite jam rivos pueri: sat prata biberunt“
(schliesst nun die Flüsse ihr Knaben: genug haben die Wiesen getrunken) nicht falsch auslegen, der
uns die Benutzung von Schleusen und Gräben berichtet, die wesentliche Elemente eines jeden
Kanales sind* Die Technik dieser hydraulischen Werke und Vorrichtungen, die sich im Kaiserreiche
vervollkommnet hatte, wird sicher während der Invasionen und der finsteren Jahrhunderte der
Völkerwanderung nicht verloren gegangen sein: sie rettete sich nach Transpadanien, das von einem
der Invasionsvölker seiner Fruchtbarkeit wegen zum Herrschaftszentrum erwählt und in den Er-


Strömungsstudien - Cod. F, foL
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