DIE GEOLOGIE UND
GEOGRAPHIE LEONARDOS
Unter den vielen Gesichtspunkten, unter denen man das Genie Leonardos betrachten kann,
ist natürlicherweise gleichermaszen wichtig jener, welcher sich auf die Geologie, die Kosmographie
sowie die Geographie bezieht* Als gründlicher, scharfer Beobachter und Forscher aller Naturer-
scheinungen, der einen Teil seines vielgestaltigen und arbeitsreichen Lebens jener Kunst gewidmet
hat, welche wir in der modernen Sprache als die Tätigkeit eines Wasserbaumeisters bezeichnen
könnten, hat Leonardo frei von aristotelischen und ähnlichen Vorurteilen mit Hilfe seiner scharfen
Geisteskraft verschiedene geologische Entdeckungen machen können, die bis zu seinen Tagen
unter irrtümlichen Auffassungen verborgen blieben, wie er auch zu hohen wissenschaftliche!!
Erkenntnissen gelangen konnte, ohne seine zuverlässigen erd- und länderkundlichen Aufzeichnungen
Zu vernachlässigen* Seine praktischen Erkenntnisse der Erde und ihrer Beschaffenheit erwarb er sich
bei der Projektierung von Strassen- und Kanalbauten, sowie bei der Bearbeitung wasserbaulicher
Anlagen, wobei nicht übersehen werden soll, dass Leonardo das Hügelland Toskanas durchstreifte,
um auf diese Weise die häufig vorkommenden Versteinerungen zu beobachten*
Welch grosse Bedeutung Leonardo der Geologie beimasz, ist klar in seinen eigenen Worten
ausgedrückt: „Die Kenntnis der Beschaffenheit und der Lage der Erde ist Zierde und Nahrung
dem menschlichen Geiste“ (Cod* Atl*, fol* 365)*
In den wenigen folgenden kurzgefassten Seiten werde ich die Gedanken Leonardos über ver-
schiedene geologische Fragen mit seinen eigenen Worten und damit klarer und überzeugender
darzustellen versuchen*
Obgleich Leonardo in einer Zeit lebte, welche die Erde als Mittelpunkt des Weltalls sah
(und Galilei konnte davon ein Lied singen 1), hielt er daran fest, „dass die Erde ein Stern sei“,
(Cod* Atl*, fol* 112), d* h* ein Himmelskörper — „ähnlich dem Monde“ (Ms* F, fol* 94), der sich
weder im Mittelpunkt des Sonnenkreises noch des Weltalls befindet“, — sodass „auf den, der auf
dem Monde stünde ♦ ♦ ♦ unsere Erde mit dem Element des Wassers, nicht nur scheinbar, sondern
tatsächlich dieselbe Wirkung ausüben würde, die der Mond auf uns ausübt“ (Ms* F, fol* 41)*
Was die Kugelgestalt der Erde, die noch nicht allgemein anerkannt war, betrifft, und worauf
er im Cod* Triv* fol* 29 hinweist, so stellt er diese in seiner Abhandlung über die Malerei dar und
Zeigt die wirkliche Lage des Horizontes, wobei er den Versuch anführt, dass der Horinzont eines
Beobachters auf dem Meere immer weiter wird; er beschreibt auch andere Experimente, die sich
mit der Rundung des Meeresspiegels beschäftigen (Ms* F, fol* 52), dass der Wasserball völlig rund
sei (Ms* F, fol* 82), wobei er auch die Idee seiner Zeit bekämpfte, nach welcher zwischen den
Meeren starke Unebenheiten bestünden*
Obwohl Leonardo in einer Epoche lebte, in welcher die aristotelisch- ptolemäische Idee von
der Weltzerstörung noch vorherrschte, hatte er ziemlich richtige Auffassungen; da er die Sonne für
unbeweglich hielt, drückte er sich über die tägliche Drehung der Erde um die eigene Achse sehr
klar aus, wobei er darauf hinwies, dass „die Tage nicht gleichzeitig im ganzen Weltall beginnen,
dass somit, wenn auf unserer Halbkugel Mittag ist, auf der entgegengesetzten Mitternacht sei“ (Ms*
Leie*, fol* 6); er erklärt „wie die grosse Reibung in der Luft durch die herrschende Bewegung um
sich selbst in 24 Stunden hervorgerufen würde“ (Ms* G, fol* 55)*
Auch seine Beobachtungen über die Grösse der Erdkugel, „wenn man den Umfang von 7000
Meilen, welchen die Erde hat“ (Cod* Leie*, fol* 35) betrachtet, d* h* (nach mailändischem Masz)
ungefähr 12*500*000 Meter Durchmesser, so ist Leonardo nicht weit davon entfernt, was man heute
annähernd berechnet hat (wenig mehr als 12*700*000)*
iy "R»
-1-yrJ",
Zeichnerische Darstellung eines Teiles
der Adda dal Molino di Brivio im
Vergleich zu jenem des Travaglia -
Cod. Atl., fol. 335 recto-a
Ein Flussbett - Windsor, Nr. 12676
455
GEOGRAPHIE LEONARDOS
Unter den vielen Gesichtspunkten, unter denen man das Genie Leonardos betrachten kann,
ist natürlicherweise gleichermaszen wichtig jener, welcher sich auf die Geologie, die Kosmographie
sowie die Geographie bezieht* Als gründlicher, scharfer Beobachter und Forscher aller Naturer-
scheinungen, der einen Teil seines vielgestaltigen und arbeitsreichen Lebens jener Kunst gewidmet
hat, welche wir in der modernen Sprache als die Tätigkeit eines Wasserbaumeisters bezeichnen
könnten, hat Leonardo frei von aristotelischen und ähnlichen Vorurteilen mit Hilfe seiner scharfen
Geisteskraft verschiedene geologische Entdeckungen machen können, die bis zu seinen Tagen
unter irrtümlichen Auffassungen verborgen blieben, wie er auch zu hohen wissenschaftliche!!
Erkenntnissen gelangen konnte, ohne seine zuverlässigen erd- und länderkundlichen Aufzeichnungen
Zu vernachlässigen* Seine praktischen Erkenntnisse der Erde und ihrer Beschaffenheit erwarb er sich
bei der Projektierung von Strassen- und Kanalbauten, sowie bei der Bearbeitung wasserbaulicher
Anlagen, wobei nicht übersehen werden soll, dass Leonardo das Hügelland Toskanas durchstreifte,
um auf diese Weise die häufig vorkommenden Versteinerungen zu beobachten*
Welch grosse Bedeutung Leonardo der Geologie beimasz, ist klar in seinen eigenen Worten
ausgedrückt: „Die Kenntnis der Beschaffenheit und der Lage der Erde ist Zierde und Nahrung
dem menschlichen Geiste“ (Cod* Atl*, fol* 365)*
In den wenigen folgenden kurzgefassten Seiten werde ich die Gedanken Leonardos über ver-
schiedene geologische Fragen mit seinen eigenen Worten und damit klarer und überzeugender
darzustellen versuchen*
Obgleich Leonardo in einer Zeit lebte, welche die Erde als Mittelpunkt des Weltalls sah
(und Galilei konnte davon ein Lied singen 1), hielt er daran fest, „dass die Erde ein Stern sei“,
(Cod* Atl*, fol* 112), d* h* ein Himmelskörper — „ähnlich dem Monde“ (Ms* F, fol* 94), der sich
weder im Mittelpunkt des Sonnenkreises noch des Weltalls befindet“, — sodass „auf den, der auf
dem Monde stünde ♦ ♦ ♦ unsere Erde mit dem Element des Wassers, nicht nur scheinbar, sondern
tatsächlich dieselbe Wirkung ausüben würde, die der Mond auf uns ausübt“ (Ms* F, fol* 41)*
Was die Kugelgestalt der Erde, die noch nicht allgemein anerkannt war, betrifft, und worauf
er im Cod* Triv* fol* 29 hinweist, so stellt er diese in seiner Abhandlung über die Malerei dar und
Zeigt die wirkliche Lage des Horizontes, wobei er den Versuch anführt, dass der Horinzont eines
Beobachters auf dem Meere immer weiter wird; er beschreibt auch andere Experimente, die sich
mit der Rundung des Meeresspiegels beschäftigen (Ms* F, fol* 52), dass der Wasserball völlig rund
sei (Ms* F, fol* 82), wobei er auch die Idee seiner Zeit bekämpfte, nach welcher zwischen den
Meeren starke Unebenheiten bestünden*
Obwohl Leonardo in einer Epoche lebte, in welcher die aristotelisch- ptolemäische Idee von
der Weltzerstörung noch vorherrschte, hatte er ziemlich richtige Auffassungen; da er die Sonne für
unbeweglich hielt, drückte er sich über die tägliche Drehung der Erde um die eigene Achse sehr
klar aus, wobei er darauf hinwies, dass „die Tage nicht gleichzeitig im ganzen Weltall beginnen,
dass somit, wenn auf unserer Halbkugel Mittag ist, auf der entgegengesetzten Mitternacht sei“ (Ms*
Leie*, fol* 6); er erklärt „wie die grosse Reibung in der Luft durch die herrschende Bewegung um
sich selbst in 24 Stunden hervorgerufen würde“ (Ms* G, fol* 55)*
Auch seine Beobachtungen über die Grösse der Erdkugel, „wenn man den Umfang von 7000
Meilen, welchen die Erde hat“ (Cod* Leie*, fol* 35) betrachtet, d* h* (nach mailändischem Masz)
ungefähr 12*500*000 Meter Durchmesser, so ist Leonardo nicht weit davon entfernt, was man heute
annähernd berechnet hat (wenig mehr als 12*700*000)*
iy "R»
-1-yrJ",
Zeichnerische Darstellung eines Teiles
der Adda dal Molino di Brivio im
Vergleich zu jenem des Travaglia -
Cod. Atl., fol. 335 recto-a
Ein Flussbett - Windsor, Nr. 12676
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