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Leonardo
Leonardo da Vinci — Berlin, 1943

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https://doi.org/10.11588/diglit.42331#0300

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D I E
VON

WISSENSCHAFT
DER KONSTRUKTION

Die neuen Materialien, die wir heute verwenden, haben die Formen unserer Architektur
weitgehend beeinflusst* Es würde sich also lohnen, eine ins Einzelne gehende Geschichte der
Technik zu schreiben, in der die allmähliche Entwicklung der Konstruktionsformen, sowohl ihren
wissenschaftlichen als ihren praktischen Erkenntnissen nach, behandelt wird»
Eine in diesem Sinne durchgeführte Analyse könnte etwa zu folgendem Ergebnis führen: Aus
dem Mangel an Kenntnissen über die Widerstandsfähigkeit des Materials einerseits und aus der
Notwendigkeit einer gewissen Stabilität der Konstruktion andererseits entstanden in archaischen
Zeiten die gedrungenen, massigen Formen» Je reicher mit der Zeit die empirischen Erkenntnisse
wurden, desto mehr wagte man in der Praxis, die Formen gefälliger und schlanker zu gestalten»
So gelangte man erst zur reinen Schönheit der griechischen Kunst und später zur kühnen Kon-
struktion des romanischen Bogens» Als aber die empirisch erprobten Bauregeln in barbarischen
Zeitläuften verloren gingen, kam das Zeitalter der Gotik» Die Probleme statischer Sicherheit mussten
jetzt auf andere Weise irgendwie gelöst werden» So würde man — selbst wenn man bei der
Betrachtung des Entwicklungsablaufes niemals in das Gebiet des Künstlerischen abschweifen
würde — nach und nach bis zur gewagten Bauweise unserer Tage Vordringen, die ohne eine
genaue Materialkenntnis unmöglich zu verstehen ist»
Wenn wir nun von der Widerstandsfähigkeit der Materie sprechen, so stossen wir hier — in
der Geschichte dieser Wissenschaft — auf einen Gegensatz, der jedoch nur äusserlicher Natur ist»
Es handelt sich kurz um folgendes:
Die Geschichte schreibt dem Galileo Galilei die ersten Untersuchungen über den Widerstand
der Materie zu» Es handelt sich dabei in Sonderheit um die Biegsamkeit von Stäben, die an einem
oder auch an beiden Enden festgehalten werden und um Säulen und Pilaster, die von obenher
belastet sind»
Galileo wusste nichts von den Untersuchungen Leonardos, da die Manuskripte unseres
Grossen überall zerstreut und in Vergessenheit geraten waren. In seinen „Discorsi e Dimostra-
zioni matematiche intorno a due nuove scienze“ glaubt er, der erste zu sein, der dieses Spezial-
gebiet erforscht»
Spuren, die auf experimentelle Beobachtungen dieser Art hindeuten, finden sich aber auch
im Altertum» Sie sind es, die als die Grundlage zur Lehre vom Widerstand der Materie angesehen
werden dürfen.
Der Mensch der Vorzeit hat vielleicht schon gemerkt, dass sich ein Stock leichter zerbrechen
lässt, wenn man ihn über ein Knie legt und ihn dann an den äussersten Enden — statt nahe an
der zu brechenden Stelle — anfasst.
Den ersten, höchst bedeutsamen Hinweis, der dokumentarisch zu belegen ist, finden wir
in der fünften und siebzehnten der „Mechanischen Fragen“ von Aristoteles» Dabei mag hier die
Diskussion beiseite bleiben, ob die „Mechanischen Fragen“ dem Aristoteles mit Recht zugeschrieben
werden oder nicht»




Erste Forschungen über die Reaktion
der Materialien - Ms. A, fol. 47 verso


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