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Leonardo
Leonardo da Vinci — Berlin, 1943

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https://doi.org/10.11588/diglit.42331#0480

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ANATOMIE

UND

KUNST

Die Wiedergeburt der darstellenden Kunst in Italien entspricht ausser den besonderen
sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen, die sie begünstigten, auch dem Beginn der
ersten wissenschaftlichen Studien der Körperform zu Kunstzwecken*
Wenn im griechisch-römischen Altertum die Darstellun der Körperformen eine unüber-
troffene Vollkommenheit erreichte, so war dies zum grossen Teile den besonderen Umwelt- und
Lebensbedingungen zu verdanken, in welchen sich die grossen Meister von damals befanden;
Bedingungen, die fortwährend die Möglichkeit zu Beobachtung und Erforschung des menschlichen
Körpers boten, nicht allein von jeglicher hindernden Kleidung befreit, sondern auch in häufiger
und mannigfaltiger Bewegung* So wurden Auge und Sinn des Künstlers beinahe unbewusst dazu
getragen, die verschiedenen morphologischen Elemente zu kennen und zu werten, welche nicht nur
einen bestimmten Körper charakterisieren, sondern darüber hinaus dessen mannigfache Stellungen
und Handlungen, sodass sie grundlegende Ausdruckselemente werden konnten*
Die verschiedenen politischen, sozialen und religiösen Bewegungen, die in der Folge auf-
traten, brachten es mit sich, dass der Kult der körperlichen Schönheit aufgegeben wurde, da sie
von der Kunst eine vorwiegende Verherrlichung des neuen mystischen und religiösen Gefühles ver-
langten, und zogen notwendig einen Verfall der Fähigkeit sowohl zur plastischen wie zur maleri-
schen Darstellung des menschlichen Körpers nach sich*
Mit der Renaissance kam den Künstlern die Notwendigkeit zum Bewusstsein, neue Ausdrucks-
weise für ihre Gedanken und Empfindungen zu finden, und diese drängte sie zu einem unmittel-
bereren Studium der Natur und des Wahren* Sie vermochten in ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit
sehr viel wirksamere Darstellungselemente zu liefern, als in der Wiederholung leicht ins Konven-
tionelle geratender Arbeitsweisen enthalten sein konnten*
Im Cod* Atl* fol* 199 verso-a liest man: „Es sagt der Gegner, dass es, um sich Übung zu
erwerben und viele Werke zu machen, besser sei, die erste Zeit des Studiums dazu zu verwenden-
viele von verschiedenen Meistern auf Kartons und Wände gemalte Kompositionen nachzubildens
dabei gelange man schnell zu Übung und gutem Handwerk: darauf ist zu antworten, dass dieses
Handwerk gut wäre, wenn es nach guten Werken und bedeutenden Meistern erworben wäre* Weil
jedoch solche Meister so selten sind, und sich ihrer nur wenige finden, ist es sicherer, zu den natür-
lichen Dingen zu gehen als zu jenen, die das Natürliche mit grosser Verschlechterung nachgeahmt
haben, und auf diese Weise ein schlechtes Handwerk zu erlernen, weil, wer zur Quelle gehen kann,
nicht zum Kruge gehen wird“*
Hinsichtlich der menschlichen Gestalt waren die Künstler jedoch nicht mehr gewohnt, das
Nackte in Aktion zu sehen, wie die antiken Bildhauer* Darum war es notwendig, dass an die Stelle
der alten „Übung“, die man nicht mehr unter so günstigen Bedingungen sich an eignen konnte, die
„Wissenschaft“ trat, um ihnen bei ihrem schöpferischen Werke zu helfen* Es ist hinzuzufügen, dass
noch ein anderer Umstand da war, eine solche Richtung zu begünstigen; nämlich, dass gerade in
dieser Zeit die ersten anatomischen Forschungen zu wissenschaftlichen und medizinischen Zwecken
ihren wenn auch schüchternen und angefeindeten Ursprung hatten*
In einem solchen Augenblick geschieht es also, dass „der Künstler“ Leonardo da Vinci er-
scheint und jene wissenschaftlichen Studien der menschlichen Gestalt beginnt, die er dann mit
Zielen, welche über den anfänglichen künstlerischen Zweck weit hinausgingen, fortführt: er dehnte
ihren Bereich bis zu Betrachtungen aus, die sicherlich mit der Kunst keinerlei Verbindung mehr
hatten, sondern allein seine unerschöpfliche Begierde zu erkennen befriedigen sollten*
Die ersten anatomischen Zeichnungen zu Kunstzwecken, von denen wir Kenntnis haben,



Oben und unten: Anatomie Aktzeich-
nungen - Anatomiehefte, Bd. VI,
fol. 23recto

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