WIE MAN
LEONARDO STUDIERT
Die folgenden Bemerkungen, sozusagen ein Arbeitsprogramm, möchten sich vornehmlich an
die Jungen richten, an die Liebhaber der Philosophie, die zu den bisherigen Studien über Leo-
nardo ihren Beitrag hinzufügen wollen* Ich hoffe, dass sie diesen wichtigen Studien manchen
neuen Anhänger gewinnen werden»
Es gibt die Vinciologen, wie es die Dantisten gibt» Jede Zeit hat die ihren, und von ihnen
kann man auf die Zeit schliessen» Aber auch innerhalb eines jeden Zeitalters hat jede kulturelle
Tendenz ihre eigene Methode beim Studium der Autoren angewandt, hat sich an verschiedene Nei-
gungen gehalten und — gemäss den auseinandergehenden Interessen — mehr dieses als jenes
Problem herausgestellt» So gibt es bei der Lektüre ebenso wie bei den darstellenden Künsten oder
beim Kostüm gleichzeitig verschiedene Stile und Richtungen» Als ich Leonardo als Neuplatoniker
studierte, und ich war nicht der erste, da studierte ihn der verstorbene Kenner Dr» Gerolamo
Calvi als Aristoteliker: er hatte vor mir angefangen»
Hier ist gleich einzuräumen, dass man über Leonardo etwas aussagen kann, und zwar mit
Wissen und Geschmack, auch ohne die ganze Geschichte der vincianischen Studien durchgearbeitet
zu haben» Dies gilt ganz besonders für jene Menschen, die durch Intuition das Richtige treffen; die
beim Suchen schon wissen, was sie finden werden» Aus solchen kühnen Anläufen und Vorwegnahmen
können schliesslich Abhandlungen entstehen, die mit wenigen Seiten ein ganzes wohlgegründetes
Buch aufwiegen» Ein Buch, das allenfalls auch von einem anderen geschrieben werden könnte» Es
kommt darauf an, ohne Vorurteil zu arbeiten und bei der Vertiefung in die Leonardoforschung nicht
nur die Autoren hinzuzuziehen, die von Leonardo sprechen, sondern alle jene, die von Kunst, Kultur
und Philosophie handeln» Auf diese Weise stellt man einmal fest, dass in der Menge der Leonardo-
studien richtige Erkenntnisse laut werden, die sehr wohl auch von Personen hätten ausgesprochen
werden können, die sich weislich hüten, Leonardo zum einzigen Zweck ihrer Existenz Zu machen;
und man sieht darüber hinaus, dass entscheidende Urteile über Leonardo auch von einem gesagt
sein können, der ihn gar nicht genannt und nicht ausdrücklich an ihn gedacht hat, sofern mit diesen
Urteilen Probleme berührt werden, von denen der Vinciologe weiss, dass sie Leonardo betreffen,
oder, noch besser, sofern Grundsätze berührt werden, die von Wert für das Verständnis dieser Pro-
bleme sind» So kann der Vinciologe im selbst unbeabsichtigten Leonardismus der Nicht-Vinciologen
seinen eigenen Leonardo in neuer Gestalt finden, indem er ihn so besser wiedererkennt, wie einen
teuren Menschen, der nach langer Abwesenheit zurückgekehrt ist; dieses Antlitz, diese Stimme,
diese Bewegungen, alles so vertraut, verbargen Überraschungen an Wahrheit, Bestätigungen früherer
Ansichten, Worte, die alles besser sagen» Und dies vielleicht, weil Ideen keine blossen Schemen
oder untergeschobene Systeme, sondern Wirklichkeit sind, und die Idee Leonardos ist unter den
mächtigen eine äusserst mächtige: die Idee von dem, was dem Menschen möglich ist; eine Frage,
die das Problem der Ziele des Gedankens nicht von dem Problem der Ziele der Natur trennt»
Und wenn in einer solchen Abhandlung der Leonardist manchmal leonardisiert, so lasst ihn
ruhig leonardisieren» Die Grenze solchen Leonardisierens ist übrigens gekennzeichnet durch den
Umfang, der innerhalb des Gesamtsystems der Abhandlung der Prüfung der schon erfolgten kriti-
schen Stellungnahmen zu dem gleichen Thema und solchen, die mit ihm Zusammenhängen, ein-
geräumt wird; sie ist ferner gekennzeichnet durch die Erfordernisse eines gewissen guten wissen-
schaftlichen Geschmackes (mithin nicht nur der Befolgung einer Deontologie), einer Bremse, man
könnte auch sagen eines Kanons anmutiger Würde oder — was genau dasselbe wäre — vernünftig
genossener Freiheit.
Karikaturen aus dem Album Vallardi
- Louvre
175
LEONARDO STUDIERT
Die folgenden Bemerkungen, sozusagen ein Arbeitsprogramm, möchten sich vornehmlich an
die Jungen richten, an die Liebhaber der Philosophie, die zu den bisherigen Studien über Leo-
nardo ihren Beitrag hinzufügen wollen* Ich hoffe, dass sie diesen wichtigen Studien manchen
neuen Anhänger gewinnen werden»
Es gibt die Vinciologen, wie es die Dantisten gibt» Jede Zeit hat die ihren, und von ihnen
kann man auf die Zeit schliessen» Aber auch innerhalb eines jeden Zeitalters hat jede kulturelle
Tendenz ihre eigene Methode beim Studium der Autoren angewandt, hat sich an verschiedene Nei-
gungen gehalten und — gemäss den auseinandergehenden Interessen — mehr dieses als jenes
Problem herausgestellt» So gibt es bei der Lektüre ebenso wie bei den darstellenden Künsten oder
beim Kostüm gleichzeitig verschiedene Stile und Richtungen» Als ich Leonardo als Neuplatoniker
studierte, und ich war nicht der erste, da studierte ihn der verstorbene Kenner Dr» Gerolamo
Calvi als Aristoteliker: er hatte vor mir angefangen»
Hier ist gleich einzuräumen, dass man über Leonardo etwas aussagen kann, und zwar mit
Wissen und Geschmack, auch ohne die ganze Geschichte der vincianischen Studien durchgearbeitet
zu haben» Dies gilt ganz besonders für jene Menschen, die durch Intuition das Richtige treffen; die
beim Suchen schon wissen, was sie finden werden» Aus solchen kühnen Anläufen und Vorwegnahmen
können schliesslich Abhandlungen entstehen, die mit wenigen Seiten ein ganzes wohlgegründetes
Buch aufwiegen» Ein Buch, das allenfalls auch von einem anderen geschrieben werden könnte» Es
kommt darauf an, ohne Vorurteil zu arbeiten und bei der Vertiefung in die Leonardoforschung nicht
nur die Autoren hinzuzuziehen, die von Leonardo sprechen, sondern alle jene, die von Kunst, Kultur
und Philosophie handeln» Auf diese Weise stellt man einmal fest, dass in der Menge der Leonardo-
studien richtige Erkenntnisse laut werden, die sehr wohl auch von Personen hätten ausgesprochen
werden können, die sich weislich hüten, Leonardo zum einzigen Zweck ihrer Existenz Zu machen;
und man sieht darüber hinaus, dass entscheidende Urteile über Leonardo auch von einem gesagt
sein können, der ihn gar nicht genannt und nicht ausdrücklich an ihn gedacht hat, sofern mit diesen
Urteilen Probleme berührt werden, von denen der Vinciologe weiss, dass sie Leonardo betreffen,
oder, noch besser, sofern Grundsätze berührt werden, die von Wert für das Verständnis dieser Pro-
bleme sind» So kann der Vinciologe im selbst unbeabsichtigten Leonardismus der Nicht-Vinciologen
seinen eigenen Leonardo in neuer Gestalt finden, indem er ihn so besser wiedererkennt, wie einen
teuren Menschen, der nach langer Abwesenheit zurückgekehrt ist; dieses Antlitz, diese Stimme,
diese Bewegungen, alles so vertraut, verbargen Überraschungen an Wahrheit, Bestätigungen früherer
Ansichten, Worte, die alles besser sagen» Und dies vielleicht, weil Ideen keine blossen Schemen
oder untergeschobene Systeme, sondern Wirklichkeit sind, und die Idee Leonardos ist unter den
mächtigen eine äusserst mächtige: die Idee von dem, was dem Menschen möglich ist; eine Frage,
die das Problem der Ziele des Gedankens nicht von dem Problem der Ziele der Natur trennt»
Und wenn in einer solchen Abhandlung der Leonardist manchmal leonardisiert, so lasst ihn
ruhig leonardisieren» Die Grenze solchen Leonardisierens ist übrigens gekennzeichnet durch den
Umfang, der innerhalb des Gesamtsystems der Abhandlung der Prüfung der schon erfolgten kriti-
schen Stellungnahmen zu dem gleichen Thema und solchen, die mit ihm Zusammenhängen, ein-
geräumt wird; sie ist ferner gekennzeichnet durch die Erfordernisse eines gewissen guten wissen-
schaftlichen Geschmackes (mithin nicht nur der Befolgung einer Deontologie), einer Bremse, man
könnte auch sagen eines Kanons anmutiger Würde oder — was genau dasselbe wäre — vernünftig
genossener Freiheit.
Karikaturen aus dem Album Vallardi
- Louvre
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