LEONARDO
IN DEUTSCHLAND
Das Problem „Leonardo in Deutschland“ ist vorwiegend ein geistesgeschichtliches; denn
die Spuren, die Persönlichkeit und Werk Leonardos in Deutschland hinterlassen haben, sind am
deutlichsten in der deutschen Geistesgeschichte, vornehmlich derjenigen der Goethezeit zu verfol-
gen* Leonardo war und ist in Deutschland eine lebendig wirkende geistige Kraft* Im Folgenden
soll nur von den Wirkungen des Künstlers Leonardo die Rede sein, da gerade das künstlerische
Wesen und Werk des Meisters in Deutschland besonders wirksam gewesen sind*
Auffälligerweise fehlt es an einem weithin sichtbaren Denkmal der deutschen Leonardo-
Verehrung* Wie z* B* Rubens sich mit dem Karton zur Anghiari-Schlacht auseinandergesetzt hat,
oder wie die Sixtinische Madonna in Dresden so viele Deutsche zu Gedanken über das Wesen
der Kunst angeregt hat, so eindeutig festzulegen ist der Einfluss Leonardos nicht* Möglicherweise
ist ein Grund dafür die kleine Zahl von Werken Leonardos in deutschem Besitz* Wenn auch das
18* Jahrhundert noch glaubte, eine ganze Reihe leonardischer Gemälde zu besitzen, so beweisen diese
Zuschreibungen, die man fast in jedem alten Galeritkatalog findet, höchstens, dass man keine
fest umrissene Vorstellung von der Persönlichkeit und der Kunst Leonardos hatte (x)* Jedenfalls
fehlte und fehlt ein grosses Werk Leonardos auf deutschem Boden, das geeignet wäre, die Kunst
des Meisters gleichsam konzentriert darzubieten* Es muss zunächst jedoch gefragt werden, wie denn
die Kunst Leonardos auf die zeitgenössischen deutschen Künstler gewirkt hat*
Wir können als sicher annehmen, dass Albrecht Dürer vielfältige Beziehungen zur Kunst
Leonardos gehabt hat, Beziehungen, die vielleicht bis in die Zeit seines ersten venezianischen Auf-
enthaltes zurückreichen (2)* Des öfteren wurde die Vermutung geäussert, dass Jacopo de Barbari
als Vermittler gedient habe* Wenn wir im Folgenden einige bekannte Beispiele für die Übernahme
leonardesker Motive im Werke Albrecht Dürers anführen, so wird deutlich, dass Beziehungen
zweifellos vorhanden, aber nicht von der Bedeutung für Dürer waren wie etwa Venedig, oder Mantegna*
So hat man bei dem „opus quinque dierum“ A* Dürers, jenem eigenartigen, 1506 datierten
Gemälde „Jesus unter den Schriftgelehrten“ in der Galleria Barberini zu Rom darauf hingewiesen,
dass hier in gewissem Sinne ein Niederschlag der physiognomischen Studien Leonardos festzustellen
ist* Dürer scheint von der Existenz solcher Studien jedenfalls gewusst zu haben* Vor allem erinnert
der Alte rechts vom Jesusknaben stark an Leonardo (3)*
Ebenfalls bekannt ist die Verwandtschaft des Pferdes in dem Kupferstich B* 98 „Ritter, Tod
und Teufel“ mit der Zeichnung eines kriegsgerüsteten Pferdes von Leonardo in der Ambrosiana zu
Mailand (4)* Hier könnte Jacopo de Barbari Dürer die Kenntnis von leonardesken Konstruktions-
zeichnungen und Proportionsstudien vermittelt haben*
(x) Vergleiche auch noch (Füssli) Allgemeines Künstler-Lexikon. Zürich 1818.
(2) Pauli G.: Dürer, Italien und die Antike. Leipzig 1923 (Vorträge der Bibliothek Warburg), S. 59 ff. Suida: Leonardo und sein Kreis. München
o. J. S. 253.
(3) Reprod. bei Fe. Winkler: A. Dürer, Klassiker d. Kunst, Bd. IV, Tafel 35. W. Waetzold: Dürer und seine Zeit. Wien o. J., S. 169.
(4) Reprod. in H. Bodmer: Leonardo da Vinci. Klassiker der Kunst. Bd. XXXVII, S. 247, Vgl. auch H. Wölfflin: Die Kunst Albrecht Dürers.
München 1905, S. 188.
„Das gewaltige Profil der Persön-
lichkeit Leonardos wird immer nur aus
der Feme erfasst werden können“
Jakob Burckhardt
„Die Renaissance in Italien“
Stil Cristoforo Solaris unter dem
Einflüsse Leonardos - St. Sebastian
- Marmorskulptur - Mailänder Dom
195
IN DEUTSCHLAND
Das Problem „Leonardo in Deutschland“ ist vorwiegend ein geistesgeschichtliches; denn
die Spuren, die Persönlichkeit und Werk Leonardos in Deutschland hinterlassen haben, sind am
deutlichsten in der deutschen Geistesgeschichte, vornehmlich derjenigen der Goethezeit zu verfol-
gen* Leonardo war und ist in Deutschland eine lebendig wirkende geistige Kraft* Im Folgenden
soll nur von den Wirkungen des Künstlers Leonardo die Rede sein, da gerade das künstlerische
Wesen und Werk des Meisters in Deutschland besonders wirksam gewesen sind*
Auffälligerweise fehlt es an einem weithin sichtbaren Denkmal der deutschen Leonardo-
Verehrung* Wie z* B* Rubens sich mit dem Karton zur Anghiari-Schlacht auseinandergesetzt hat,
oder wie die Sixtinische Madonna in Dresden so viele Deutsche zu Gedanken über das Wesen
der Kunst angeregt hat, so eindeutig festzulegen ist der Einfluss Leonardos nicht* Möglicherweise
ist ein Grund dafür die kleine Zahl von Werken Leonardos in deutschem Besitz* Wenn auch das
18* Jahrhundert noch glaubte, eine ganze Reihe leonardischer Gemälde zu besitzen, so beweisen diese
Zuschreibungen, die man fast in jedem alten Galeritkatalog findet, höchstens, dass man keine
fest umrissene Vorstellung von der Persönlichkeit und der Kunst Leonardos hatte (x)* Jedenfalls
fehlte und fehlt ein grosses Werk Leonardos auf deutschem Boden, das geeignet wäre, die Kunst
des Meisters gleichsam konzentriert darzubieten* Es muss zunächst jedoch gefragt werden, wie denn
die Kunst Leonardos auf die zeitgenössischen deutschen Künstler gewirkt hat*
Wir können als sicher annehmen, dass Albrecht Dürer vielfältige Beziehungen zur Kunst
Leonardos gehabt hat, Beziehungen, die vielleicht bis in die Zeit seines ersten venezianischen Auf-
enthaltes zurückreichen (2)* Des öfteren wurde die Vermutung geäussert, dass Jacopo de Barbari
als Vermittler gedient habe* Wenn wir im Folgenden einige bekannte Beispiele für die Übernahme
leonardesker Motive im Werke Albrecht Dürers anführen, so wird deutlich, dass Beziehungen
zweifellos vorhanden, aber nicht von der Bedeutung für Dürer waren wie etwa Venedig, oder Mantegna*
So hat man bei dem „opus quinque dierum“ A* Dürers, jenem eigenartigen, 1506 datierten
Gemälde „Jesus unter den Schriftgelehrten“ in der Galleria Barberini zu Rom darauf hingewiesen,
dass hier in gewissem Sinne ein Niederschlag der physiognomischen Studien Leonardos festzustellen
ist* Dürer scheint von der Existenz solcher Studien jedenfalls gewusst zu haben* Vor allem erinnert
der Alte rechts vom Jesusknaben stark an Leonardo (3)*
Ebenfalls bekannt ist die Verwandtschaft des Pferdes in dem Kupferstich B* 98 „Ritter, Tod
und Teufel“ mit der Zeichnung eines kriegsgerüsteten Pferdes von Leonardo in der Ambrosiana zu
Mailand (4)* Hier könnte Jacopo de Barbari Dürer die Kenntnis von leonardesken Konstruktions-
zeichnungen und Proportionsstudien vermittelt haben*
(x) Vergleiche auch noch (Füssli) Allgemeines Künstler-Lexikon. Zürich 1818.
(2) Pauli G.: Dürer, Italien und die Antike. Leipzig 1923 (Vorträge der Bibliothek Warburg), S. 59 ff. Suida: Leonardo und sein Kreis. München
o. J. S. 253.
(3) Reprod. bei Fe. Winkler: A. Dürer, Klassiker d. Kunst, Bd. IV, Tafel 35. W. Waetzold: Dürer und seine Zeit. Wien o. J., S. 169.
(4) Reprod. in H. Bodmer: Leonardo da Vinci. Klassiker der Kunst. Bd. XXXVII, S. 247, Vgl. auch H. Wölfflin: Die Kunst Albrecht Dürers.
München 1905, S. 188.
„Das gewaltige Profil der Persön-
lichkeit Leonardos wird immer nur aus
der Feme erfasst werden können“
Jakob Burckhardt
„Die Renaissance in Italien“
Stil Cristoforo Solaris unter dem
Einflüsse Leonardos - St. Sebastian
- Marmorskulptur - Mailänder Dom
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