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JULIUS MEIER-GBAEFE
dem ganz inneren Anlaß ihrer Ekstase. Der Geist erkennt das Monstrum,
und der Rausch erlischt vor der Gewalt der männlichen Worte Luthers.
Jetzt erst, da das alte Europa auseinander zu fallen droht, beginnt das
Europäische seine Aktion. Ist es in frühen Zeiten nur ein Schmuckwort,
das die Machtstellung eines Kulturvolks bezeichnet, wird es jetzt höchst
wirksamer Begriff: die von keiner Religion, keiner Differenz der Zonen
zurückschreckende Sehnsucht nach Sammlung und Läuterung des euro-
päischen Wesens, nach einer Sprache über den Sprachen, nach einer
Form über den Formen, nach einer Gesittung über den Sitten. Je eigen-
tümlicher im Lauf der Jahrhunderte die einzelnen Länder ihre Art ge-
stalten, je verworrener Europa wird, um so deutlicher erkennen einzelne
Individuen hier und da, in allen Ländern die Bedrohung der Gemein-
schaft. Ich weiß nicht, wer sich zuerst Europäer nannte. Goethe hätte es
bei uns sein können, in Frankreich Delacroix. Europäisch wird die Fähig-
keit, in allen Werten das, was nicht einem Volk, sondern allen Völkern
zur Gesittung nutzt, zu erkennen und zur Bildung der eigenen Vorstellungs-
welt zu verwenden. Heute ist uns und zumal im Kunstleben der Begriff
geläufig, vielleicht zu geläufig geworden und bezeichnet etwa dasselbe
wie universell, wobei wir von der Vorstellung ausgehen, daß im Kunst-
leben Europa die Wiege der Welt war. So wenig einwandfrei diese Vor-
stellung für den Historiker sein mag angesichts der viel weiter zurück-
liegenden Kultur Ostasiens, von Ägyptens Dynastien zu schweigen, man
darf darüber mit der einfachen Einsicht in die mysteriöse Verwandtschaft
der edelsten Werke aller Zeiten und Zonen mit unseren Werken, die wir
zu den höchsten rechnen, hinweggehen. Weder die Kunst Ägyptens, noch
die Kunst Ostasiens in ihren Höhepunkten widersprechen unserem Form-
gefühl, ja, sie bestätigen es so zutreffend, daß die fernen Erdteile uns greif-
bar naherücken, näher als manches Produkt der eigenen Erde. Wir unter-
scheiden dem Gefühl nach in dem schwer durchdringlichen Komplex Asien
zwischen schlechterdings asiatischen Werken, die wesentlich den Ethno-
graphen interessieren, und den schlechterdings europäischen. Den zu-
grundliegenden Formeninstinkt haben Jahrhunderte gebildet. Den Löwen-
anteil an der Erziehung hatte notwendig die Antike.
JULIUS MEIER-GBAEFE
dem ganz inneren Anlaß ihrer Ekstase. Der Geist erkennt das Monstrum,
und der Rausch erlischt vor der Gewalt der männlichen Worte Luthers.
Jetzt erst, da das alte Europa auseinander zu fallen droht, beginnt das
Europäische seine Aktion. Ist es in frühen Zeiten nur ein Schmuckwort,
das die Machtstellung eines Kulturvolks bezeichnet, wird es jetzt höchst
wirksamer Begriff: die von keiner Religion, keiner Differenz der Zonen
zurückschreckende Sehnsucht nach Sammlung und Läuterung des euro-
päischen Wesens, nach einer Sprache über den Sprachen, nach einer
Form über den Formen, nach einer Gesittung über den Sitten. Je eigen-
tümlicher im Lauf der Jahrhunderte die einzelnen Länder ihre Art ge-
stalten, je verworrener Europa wird, um so deutlicher erkennen einzelne
Individuen hier und da, in allen Ländern die Bedrohung der Gemein-
schaft. Ich weiß nicht, wer sich zuerst Europäer nannte. Goethe hätte es
bei uns sein können, in Frankreich Delacroix. Europäisch wird die Fähig-
keit, in allen Werten das, was nicht einem Volk, sondern allen Völkern
zur Gesittung nutzt, zu erkennen und zur Bildung der eigenen Vorstellungs-
welt zu verwenden. Heute ist uns und zumal im Kunstleben der Begriff
geläufig, vielleicht zu geläufig geworden und bezeichnet etwa dasselbe
wie universell, wobei wir von der Vorstellung ausgehen, daß im Kunst-
leben Europa die Wiege der Welt war. So wenig einwandfrei diese Vor-
stellung für den Historiker sein mag angesichts der viel weiter zurück-
liegenden Kultur Ostasiens, von Ägyptens Dynastien zu schweigen, man
darf darüber mit der einfachen Einsicht in die mysteriöse Verwandtschaft
der edelsten Werke aller Zeiten und Zonen mit unseren Werken, die wir
zu den höchsten rechnen, hinweggehen. Weder die Kunst Ägyptens, noch
die Kunst Ostasiens in ihren Höhepunkten widersprechen unserem Form-
gefühl, ja, sie bestätigen es so zutreffend, daß die fernen Erdteile uns greif-
bar naherücken, näher als manches Produkt der eigenen Erde. Wir unter-
scheiden dem Gefühl nach in dem schwer durchdringlichen Komplex Asien
zwischen schlechterdings asiatischen Werken, die wesentlich den Ethno-
graphen interessieren, und den schlechterdings europäischen. Den zu-
grundliegenden Formeninstinkt haben Jahrhunderte gebildet. Den Löwen-
anteil an der Erziehung hatte notwendig die Antike.