Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Marées-Gesellschaft [Hrsg.]
Ganymed: Blätter der Marées-Gesellschaft — 4.1922

DOI Heft:
Aufsätze
DOI Artikel:
Musil, Robert: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.45237#0382

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
ROBERT MUSIL/DAS HILFLOSE EUROPA

IT'J

DAS HILFLOSE EUROPA
ODER
REISE VOM HUNDERTSTEN INS
TAUSENDSTE
VON
ROBERT MUSIL
Der Autor ist bescheidener und weniger hilfsbereit als
der Titel glauben macht. Ich bin nicht nur überzeugt, daß
das, was ich sage, falsch ist, sondern auch das, was man
dagegen sagen wird. Trotzdem muß man anfangen, davon
zu reden; die Wahrheit liegt bei einem solchen Gegenstand
nicht in der Mitte, sondern rund herum wie ein Sack,
der mit jeder neuen Meinung, die man hineinstopft, seine
Form ändert, aber immer fester wird.
I
ch beginne mit einem Symptom.
Zweifellos machen wir seit zehn Jahren Weltgeschichte im grellsten
Stil und können es doch eigentlich nicht wahrnehmen. Wir sind nicht
eigentlich geändert worden; ein bißchen Überhebung vordem, ein biß-
chen Katzenjammer nachdem; wir waren früher betriebsame Bürger, sind
dann Mörder, Totschläger, Diebe, Brandstifter und ähnliches geworden:
und haben doch eigentlich nichts erlebt. Oder ist es nicht so? Das Leben
geht doch genau so dahin wie früher, bloß etwas geschwächter und mit etwas
Krankenvorsicht; der Krieg wirkte mehr karnevalisch als dionysisch, und
die Revolution hat sich parlamentarisiert. Wir waren also vielerlei und
haben uns dabei nicht geändert, wir haben viel gesehen und nichts wahr-
genommen.
Darauf gibt es, glaube ich, nur eine Antwort: Wir besaßen nicht die Be-
griffe, um das Erlebte in uns hineinzuziehn. Oder auch nicht die Gefühle,
 
Annotationen