HERRMANN ESSWEIN / LUKAS CRANACH
4i
DIE KUNST DES LUKAS CRANACH UND
IHRE WURZEL IM EROS
VON
HERMANN ESSWEIN
(ZUEIGNUNG AN M. E.)
Uns ist gegeben an keiner Stätte zu ruhen.“
or Kurt Glasers für die moderne Wertung grundlegendem Cranach-
7 Buch, welches das stilgeschichtliche Phänomen scharf beleuchtet, ohne
ihm den psychologischen Kern abzugewinnen, ist von anderer Seite in damals
begreiflich scharfer Defensivstellung gegen den pappigen Renaissance-
Schwindel der achtziger Jahre das Wort vom „bürgerlichen“, ja vom
„nationalliberalen“ Cranach in Umlauf gebracht worden.
Dieser Suggestion unterliegend, würden wir uns mancher Erkenntnis und
manches heftigen Genusses im Wiedererkennen und im vertraulichen Um-
armen einer heute wenigstens streckenweise erregend aktuellen Erschei-
nung begeben, denn soviel steht wohl ohne weiteres fest: Der „bürgerliche“
Cranach, der „Maler der Reformation“, der „Altdeutsche“ im Sinne jener
trüben Trinkstubengesinnung, die den protzigen Schnörkel der zahlungs-
fähigen Lebensfreude aus der Reichsgründerzeit für „der Väter Werk“
nahm, ein kläglich liberalisierter Cranach, der Eideshelfer einer schauder-
haften Verquickung von stumpfem Materialismus und süßlich seichter
Romantik, müßte ein für allemal der zünftigen Kunststatistik und dem
kühlsten, ausschließlich kulturhistorischen Interesse überlassen bleiben —
wenn Cranach wirklich der wäre, als der er dem zeitbefangenen, vor allem
dem soziologisch getrübten Blick erscheint.
Soziologie erklärt Epochen, aber nicht Persönlichkeiten. Der Bürger oder
Nicht-Bürger ist barer Zufall, und wenn’s hoch kommt, tingierendes Ele-
ment. Die Kunst aber ist unabhängig von der Biologie der Klasse, wesenhaft
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DIE KUNST DES LUKAS CRANACH UND
IHRE WURZEL IM EROS
VON
HERMANN ESSWEIN
(ZUEIGNUNG AN M. E.)
Uns ist gegeben an keiner Stätte zu ruhen.“
or Kurt Glasers für die moderne Wertung grundlegendem Cranach-
7 Buch, welches das stilgeschichtliche Phänomen scharf beleuchtet, ohne
ihm den psychologischen Kern abzugewinnen, ist von anderer Seite in damals
begreiflich scharfer Defensivstellung gegen den pappigen Renaissance-
Schwindel der achtziger Jahre das Wort vom „bürgerlichen“, ja vom
„nationalliberalen“ Cranach in Umlauf gebracht worden.
Dieser Suggestion unterliegend, würden wir uns mancher Erkenntnis und
manches heftigen Genusses im Wiedererkennen und im vertraulichen Um-
armen einer heute wenigstens streckenweise erregend aktuellen Erschei-
nung begeben, denn soviel steht wohl ohne weiteres fest: Der „bürgerliche“
Cranach, der „Maler der Reformation“, der „Altdeutsche“ im Sinne jener
trüben Trinkstubengesinnung, die den protzigen Schnörkel der zahlungs-
fähigen Lebensfreude aus der Reichsgründerzeit für „der Väter Werk“
nahm, ein kläglich liberalisierter Cranach, der Eideshelfer einer schauder-
haften Verquickung von stumpfem Materialismus und süßlich seichter
Romantik, müßte ein für allemal der zünftigen Kunststatistik und dem
kühlsten, ausschließlich kulturhistorischen Interesse überlassen bleiben —
wenn Cranach wirklich der wäre, als der er dem zeitbefangenen, vor allem
dem soziologisch getrübten Blick erscheint.
Soziologie erklärt Epochen, aber nicht Persönlichkeiten. Der Bürger oder
Nicht-Bürger ist barer Zufall, und wenn’s hoch kommt, tingierendes Ele-
ment. Die Kunst aber ist unabhängig von der Biologie der Klasse, wesenhaft