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Marées-Gesellschaft [Hrsg.]
Ganymed: Blätter der Marées-Gesellschaft — 4.1922

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Paralipomena
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Aus Grillparzers ästhetischen Schriften: Bei Gelegenheit der fünfzigsten Wiederkehr des Todestags Grillparzers (1872 - 21. Januar - 1922)
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https://doi.org/10.11588/diglit.45237#0424

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AUS GRILLPARZERS ÄSTHETISCHEN
SCHRIFTEN
Bei Gelegenheit derfünfzigsten Wiederkehr des Todes-
tags Grillparzers
(1872 — 21. Januar — 1922)
Das Gefühl des Schönen ist ein unendliches, weshalb es auch unter dessen charakte-
ristische Zeichen gehört, daß dabei die Wirkung weit die veranlassende Ursache über-
steigt. Was liegt denn in dem Materiellen oder selbst in den Verhältnissen einer wohl-
geordneten Säulenreihe, daß es mit einem Schlage dein ganzes Wesen erhebt, dich an-
zieht, fesselt, dich bis zu Tränen entzückt, alles, was du Großes und Herrliches gesehen,
gelesen, gehört, empfunden, mit einem Zauberschlage emporregt und in lauen Wellen
durch die erweiterten Adern strömen läßt? Warum bist du besser, milder, gütiger, mu-
tiger in dem Augenblicke der Beschauung und bald darauf, solange der Eindruck noch
in deinem Innern wogt? Warum entzückt dich die Natur selbst in dieser Stimmung mehr,
so daß selbst Gräser und Mücken eine Bedeutung gewinnen? Kannst du hassen, grollen,
beneiden, hinterhalten in dieser Stimmung? Scheint nicht der ewige Zwiespalt der sitt-
lichen und sinnlichen Natur, des Wollens und Sollens, in diesem Augenblicke ausge-
glichen? Ist dir Gott noch unbegreiflich, und unverständlich das All? Fühlst du nicht
deine Verwandtschaft mit den Wesen unter dir und mit etwas über dir? Ist es nicht, als
ob unsichtbare Fäden sich aus deinem Innern ausspannten und in ungeahnten Beziehungen
die ganze Welt verbänden? Und das alles hätte der armselige Säulengang aus hartem
Sandstein, nach dem oder jenem Verhältnisse geordnet, bewirkt? Oder wäre es nicht das
Gefühl der Ganzheit; das momentane Auf hören der Zersplitterung, in die das Leben unser
Wesen versetzt; das Gefühl der Einheit alles Endlichen in einem Unendlichen, was diese
Wirkungen hervorruft? — Ferner zum deutlichen Beweis, daß nicht bloß die Phantasie
auf Kosten der übrigen Vermögen erhöht wird — du denkst auch leichter in diesem
Zustande; alle Wahrheiten— höchstens die mathematischen ausgenommen, die eben die
strengste Sonderung fordern — sind dir einleuchtender, selbst die philosophische Ab-
straktion gelingt besser, zum deutlichen Beweise, daß die durch das Schöne bewirkte Er-
höhung der innern Kräfte nicht eine teilweise, sondern eine allgemeine ist.
*
Man hat die Nachahmung der Natur als das höchste Gesetz der Kunst aufgestellt. Ich
frage aber: Kann man die Natur nachahrnen? — Die Bildhauerkunst gibt Formen, aber
 
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