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Marées-Gesellschaft [Hrsg.]
Ganymed: Blätter der Marées-Gesellschaft — 4.1922

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Aufsätze
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Kassner, Rudolf: Gogol
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https://doi.org/10.11588/diglit.45237#0310

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RUDOLF KASSNER/GOGOL

155

GOGOL
VON
RUDOLF KASSNER
i
Indem im folgenden gezeigt wird, wie in Gogol sich die russische Seele
verkörpert, soll zugleich der Versuch gemacht werden, einen Dichter
und dessen Werk von der Idee aus zu sehen und zu bestimmen. Physio-
gnomisch also und nicht psychologisch, wobei gleich bemerkt sei, daß
unter Physiognomik im weitesten Sinne [zum Unterschiede von Psycho-
logie) eben das Sehen und Bestimmen eines Dinges oder Wesens aus dessen
Idee, aus dessen Mittelpunkt verstanden wird.
Idee und Form sind auf keine Weise zu trennen und sind wie das Innen
und Außen Desselben. Idee ist also keineswegs so viel wie Gefühl oder
Wille oder sonst ein verborgener Zustand der Seele. Shakespeare hat ge-
wiß die Natur nicht wesentlich anders gefühlt als Goethe oder Keats oder
Tolstoi, und doch ist die Natur, deren Idee und Gesicht in den Schöp-
fungen dieser Dichter ein durchaus Verschiedenes. Die Welt ist vielleicht
aus dem Willen oder Gefühl eines eigensinnigen und launenhaften Gottes
geschaffen, aus welchem Grunde es begreiflich erscheint, daß sich die
Willensäußerungen und Gefühle der Menschen an diesen also verborgenen
Gott wenden; die Welt ist aber durch Idee bestehend und in der Idee und
aus ihr gegenwärtig. Auch dieses Sehen und Erkennen der Gegenwart
eines Dinges ist Physiognomik in dem Sinne, in welchem der Begriff hier
und an anderen Orten von mir gefaßt wurde.
Auch Geschichte ist nur als eine Folge von Ideen und nicht als wechselnder
Bestand von Persönlichkeiten oder ein Komplex von Geschehnissen be-
deutend. Es ist nichts wichtiger, als diesen Zusammenhang von Idee und
Geschichte — den die antike Welt und Platon noch nicht kannten — zu
 
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