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Marées-Gesellschaft [Hrsg.]
Ganymed: Blätter der Marées-Gesellschaft — 4.1922

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Aufsätze
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Hausenstein, Wilhelm: Renoir
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https://doi.org/10.11588/diglit.45237#0192

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82

WILHELM HAESENSTEIN

RENOIR
VON
WILHELM HAUSENSTEIN
Es ist Verhängnis der Deutschen, Dinge, die Eins sind oder Eins sein
könnten, in Gegensätze zu spalten. Das Zeichen deutschen Lebens ist
der Bruch. Die Deutschen reden viel von Individualität. Das bedeutet: von
Wesen, die einen unteilbaren Grund darstellen und durch ihre Unteil-
barkeit kernartig das Dasein befestigen. Sieht man zu, so ist dieser Ge-
danke eine Ausschweifung des Partikularismus, eine Passion fürs Frag-
mentarische (und durch das Fragmentarische). Individualität bedeutet
Aufhebung des Kollektiven: der Gesellschaft, der Nation, der Straße, der
Klasse, der Rasse. Sie bedeutet noch mehr (und mehr als sie weiß oder
will): denn sie teilt nicht nur das Kollektive, sondern ist — eben deshalb
übrigens — auch immer klaffender Torso ihrer selbst. Ihre Intransigenz
macht vor ihr selbst nicht Halt. Das Individuelle dividiert sich weiter.
Allmählich wird der Unsinn offenbar: das angeblich Unteilbare, das einen
letzten Widerstand bedeuten soll, ist im Grunde nichts als die Fortsetzung
einer dem deutschen Zustand innewohnenden Zwangsläufigkeit auftei-
lender Tendenzen. In Deutschland ist nicht begriffen, daß Individualität
nur möglich ist, wo sie sich balanciert — ja daß sie recht eigentlich eine
Idee der Balance ist. Deutsche Individualität ist aus dem System der Gleich-
gewichte hinausgesprungen. Nun verliert sie sich abseits. Beispiele in
mancherlei Abwandlung dieses grundsätzlichen Schauspiels: Grünewald,
Marees. Oder, wenn man will: Feuerbach, Leibi. Mit anderen Worten:
Deutschland ist das klassische Land der zugebissenen, der tränenreichen,
der selbstmörderischen Monomanie, des Mißverstandenwerdens und des
Mißverstehens.
Das klassische Gegenteil dieses Zustandes ist Renoir. Man umspannt die
Erscheinung erst vollends, wenn man ihren Gegensatz gegen das Deutsche
 
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