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Marées-Gesellschaft [Editor]
Ganymed: Blätter der Marées-Gesellschaft — 4.1922

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Aufsätze
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Meier-Graefe, Julius: Der Beitrag Deutschlands zur Kunst Europas
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https://doi.org/10.11588/diglit.45237#0023

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DER BEITRAG DEUTSCHLANDS
ZUR KUNST EUROPAS
VON
JULIUS MEIER-GRAEFE
I
ür den Griechen war Hellas Europa, für den Römer Rom. Anderswo
hausten Barbaren. Das Christentum schwemmte Neuland an und gab
schließlich den Völkern des ganzen Erdteils gemeinsamen Kult, kulturelle
Gemeinschaft. Europäisch war christlich. Italien aber blieb das Mutter-
land. Von hier gingen die bilderreichen Legenden in die Welt, und das
Idiom des Kults, auch in den abgelegensten Ländern, war lateinisch. Nun
wachsen die Sprachen der bekehrten Völker heran, bilden Literatur, und
um die zugeführten Legenden rankt sich einheimische Form. Während
sich im alten Zentrum die Kirche verweltlicht, erstarkt in den Kolonien
der christliche Geist. Der entringt sich den Formen des Südens und dringt
auf geistigen Extrakt des Christentums: die Idee. In nichts begrenzt, kann
die Idee nicht Form sein, ist aller Gestalt feindlich, die sie nicht in
himmelstürmenden Rausch aufzulösen vermag. Aber der Rausch aus
der Idee hat unterwegs göttliche Augenblicke. Nie trieb ein Gedanke
die Menschheit höher hinauf als in der Glanzzeit der Gotik. Der Begriff
des Genies entsteht im Norden und scheint im ersten Augenblick von jeder
zerteilenden Vereinzelung, die sein Schicksal werden soll, frei, ja, ballt,
wie nichts anderes vorher, eine Menschheit zu kühner Tatkraft zusammen.
Nicht dieser oder jener, sondern die Gemeinde, das ganze von der Idee
erfaßte Volk ist genial. Diese nordische Neuheit bricht mit Rom. Das
Lateinische verschwindet. Die Dinge des Geistes sind zu wichtig, als daß
nicht jeder in seiner Muttersprache darüber reden müßte, und so diffe-
renziert sich immer mehr Kult und Kultur. Sobald diese Kultur die Höhe
erreicht, bricht ihre tollkühne Form, nicht unter einem äußeren, sondern
 
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