Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Marées-Gesellschaft [Hrsg.]
Ganymed: Blätter der Marées-Gesellschaft — 4.1922

DOI Heft:
Paralipomena
DOI Artikel:
Meier-Graefe, Julius: Die Russen in Berlin
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.45237#0524

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
JULIUS MEIER-GRAEFE/DIE RUSSEN


DIE RUSSEN IN BERLIN
VON
JULIUS MEIER-GRAEFE
Die Moskauer spielten erst im Theater an der Königgrätzer Straße, dann im sogenann-
ten Künstlertheater am Zoologischen. Mit demselben Erfolg wie vor siebzehn
Jahren, als Stanislawski dabei war. Diesmal fehlte der große Apparat, die üppigen Kostüme
für die Zarenstücke, und Stanislawski, der Führer. Man merkte es nur in winzigen Nuancen,
Wer sie damals nicht gesehen hatte, war jetzt womöglich noch überraschter. Denn in den
siebzehn Jahren, zumal seit dem Tode ßrahms, ist die deutsche Komödienspielerei mit
riesigen Schritten bergab gegangen, und die Differenz der Niveaus wurde zum Abgrund.
Wie machen es die Russen? — Man sitzt da, versteht kein Wort, langweilt sich und ist
begeistert, hat nachher, am nächsten Morgen, noch nach siebzehn Jahren den Eindruck,
zwischen Menschen einer höheren Art gewesen zu sein. Das Merkwürdige, daß man sich
tatsächlich langweilt, nicht nur Minuten, sondernViertelstunden, eine Ewigkeit, genügend,
um ein Dutzend deutscher Premieren umzubringen. — Die bekannte Liebedienerei der
Deutschen vor jedem hergelaufenen Fremden? — Schon gut, liebe Alldeutsche! Man lang-
weilt sich wie bei gewissen Kapiteln Dostojewskijs. Niedrige Organe, die sonst gefüttert
werden, gehen leer aus. Ein Jucken, eine Platzfurcht. Bis zu dem Moment, der alle Organe
aufs äußerste spannt und eine blitzschnelle Retrospektive aufreißt, zehn neue Organe
weckt, jeden Platz, jedes Plätzchen füllt.
Das Ethnographische wäre eine bequeme Erklärung, obwohl die Hottentotten und Neger
schon einigermaßen abgewirtschaftet haben. Diese Russen aber spielen höchst europäische
Stücke. Damals, 1906, brachten sie unter anderem Ibsens „Volksfeind“, die Geschichte
von der faulen Badequelle. Stanislawski gab den Doktor. In Deutschland pflegt das ein
protestantischer Heiliger Sebastian zu sein, der schon mit den Pfeilen im Fleisch auf die
Bühne kommt. In den ersten zehn Minuten hat man die ganze Symbolik wie ein belegtes
Butterbrot vor sich; der Freund der Menschheit, die vergiftete Menschheit, die bösen
Vergifter. Stanislawski war nicht symbolisch. Dieser Doktor verstand Chemie, war ver-
sessen auf seine kleine Wissenschaft, ein Virchow aus der Provinz. Hört mal, liebe Kinder,
diese Quelle — selbstverständlich, sehr unangenehm, aber die Analyse! Kinder, das geht
doch gar nicht! Die Analyse — Irrtum ausgeschlossen! Ich habe sie selbst gemacht, zehn-
mal, zwanzigmal, so und so. Seht mal her, die Zahlen, wie? Kommt in mein Laboratorium,
 
Annotationen