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Marées-Gesellschaft [Hrsg.]
Ganymed: Blätter der Marées-Gesellschaft — 4.1922

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Aufsätze
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Esswein, Hermann: Die Kunst des Lukas Cranach und ihre Wurzel im Eros
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https://doi.org/10.11588/diglit.45237#0110

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HERMANN ESSWEIN

und im Wigwam des Navagoe schließlich genau so unbedingt wie in der
gotischen Werkstatt oder in den Ateliers von der Renaissance bis auf den
heutigen Tag. Mit Bedingendem hat sie sich freilich überall auseinander-
zusetzen, und es mag für viele Zweige der Erkenntnis schön und lehrreich
sein, diese Bedingtheiten, Bedingungen und Bedingnisse zu verfolgen. Sie
verdienen in vielen Fällen volle Beachtung als fördernder oder als hemmen-
der Begleitumstand, als Folie des Ästhetischen, aber in der Hauptsache
sind wir heute doch so weit, sollten wir so weit sein, unseren von einer
wertearmen Zeit gesteigerten Durst zunächst nach dem Trank und nicht
nach dem Becher fragen zu lassen, in dem er geboten wird, uns zunächst
einmal an das zu halten, was uns letzten Endes überhaupt zur Kunst führt,
ans Genießbare, an das, was leicht und tief ins Blut geht wie gepflegter
alter Wein.
Dies Zündende, Erregende ist gewiß nicht der soziologisch ansprechbare
Zustand, nicht bei dem „Bürger“ Gezanne und nicht bei dem „Proletarier“
van Gogh. Die allzu ängstliche oder gar zum stilkritischen Maßstab er-
hobene Erwägung solcher Gebundenheiten schiebt die Epoche wie ein ge-
färbtes Glas zwischen den Betrachter und den Gegenstand, und dabei ist
in jeder Epoche die soziologische Kategorie trotz ungefährer oder auch
völliger Namensgleichheit doch wieder eine vollkommen andere: Ein Bür-
ger des 16. Jahrhunderts, gar wenn er noch wie Cranach im letzten Drittel
des io. wurzelte, ist dem Verdacht jeglicher Spielart von Liberalismus
weit entrückt, wiegt, ein erratischer Block, die amorphen Schleimkonglo-
merate neuzeitlichen Bourgeoistums hoch auf und bedeutet, falls nur in
irgendeinem entfernten Sinne als Künstler fühlbar, das polare Widerspiel
des durchaus widerästhetischen Elements heutiger Bürgerlichkeit. Was
ohne Verhältnis zum Leben, auf Erwerb und massiven Genuß gerichtet,
sonst in allem lasch, neben die Daseinsgrundlagen die völlig klar geglie-
derte, einleuchtend logische, nachweisbar ästhetische und, versteht sich,
natürlich auch moralische Kulisse eines Jahrmarktschaustückes von Geist
baut, das wolle sich doch ja nicht identifizieren mit dem Bürger, der wirk-
lich noch um eine Burg siedelte, wirklich noch unter einem Himmel lebte
und unter einem Gott!
 
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