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ROBERT MUSIL
deren Magnetismus sie dazu aktiviert. Zurückgeblieben ist nur eine sehr
erstaunte Unruhe, ein Zustand, als hätten sich vom Erlebnis her Nerven-
bahnen zu bilden begonnen und wären vorzeitig abgerissen worden.
Eine Unruhe. Deutschland wimmelt von Sekten. Man blickt nach Ruß-
land, nach Ostasien, nach Indien. Man klagt die Wirtschaft an, die Zivili-
sation, den Rationalismus, den Nationalismus, man sieht einen Untergang,
ein Nachlassen der Rasse. Alle Wölbungen sind vom Krieg eingedrückt
worden. Selbst der Expressionsismus stirbt. Und das Kino ist am Vor-
marsch (Rom vor dem Untergang).
In Frankreich, in England, in Italien — soweit man es als Nichtspezialist
bei unsrem sehr schlechten Nachrichtendienst beurteilen kann — scheint
die Unsicherheit nicht geringer zu sein, mögen auch die Einzelerscheinungen
abweichen.
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So sieht also Weltgeschichte in der Nähe aus; man sieht nichts.
Freilich wird man einwenden, man sei zu nah. Das ist aber ein Gleichnis.
Hergenommen vom Gesichtssinn; man kann zu nah an einem Ding sein,
um es überblicken zu können. Kann man aber zu nah an einer Erkenntnis
sein, um sie fassen zu können? Das Gleichnis stimmt nicht. Wir wüßten
genug, um uns ein Urteil über Gegenwärtiges und Jüngstvergangenes zu
bilden, wir wissen jedenfalls mehr, als spätere Zeiten wissen werden.
Eine andre Wurzel des Gleichnisses heißt, noch zu beteiligt sein. Aber
wir waren ja gar nicht beteiligt?
Die berühmte historische Distanz besteht darin, daß von hundert Tat-
sachen fünfundneunzig verlorengegangen sind, weshalb sich die verblie-
benen ordnen lassen, wie man will. Darin aber, daß man diese fünf
nun ansieht wie eine Mode von vor zwanzig Jahren oder ein lebhaftes
Gespräch zwischen Menschen, die man nicht hört, bekundet sich die
Objektivität. Man erschrickt über die Groteskheit menschlicher Hand-
lungen, sobald sie nur ein wenig ausgetrocknet sind, und sucht sie aus
allen Umständen zu erklären, die man nicht selbst ist, das ist aus den
historischen.
ROBERT MUSIL
deren Magnetismus sie dazu aktiviert. Zurückgeblieben ist nur eine sehr
erstaunte Unruhe, ein Zustand, als hätten sich vom Erlebnis her Nerven-
bahnen zu bilden begonnen und wären vorzeitig abgerissen worden.
Eine Unruhe. Deutschland wimmelt von Sekten. Man blickt nach Ruß-
land, nach Ostasien, nach Indien. Man klagt die Wirtschaft an, die Zivili-
sation, den Rationalismus, den Nationalismus, man sieht einen Untergang,
ein Nachlassen der Rasse. Alle Wölbungen sind vom Krieg eingedrückt
worden. Selbst der Expressionsismus stirbt. Und das Kino ist am Vor-
marsch (Rom vor dem Untergang).
In Frankreich, in England, in Italien — soweit man es als Nichtspezialist
bei unsrem sehr schlechten Nachrichtendienst beurteilen kann — scheint
die Unsicherheit nicht geringer zu sein, mögen auch die Einzelerscheinungen
abweichen.
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So sieht also Weltgeschichte in der Nähe aus; man sieht nichts.
Freilich wird man einwenden, man sei zu nah. Das ist aber ein Gleichnis.
Hergenommen vom Gesichtssinn; man kann zu nah an einem Ding sein,
um es überblicken zu können. Kann man aber zu nah an einer Erkenntnis
sein, um sie fassen zu können? Das Gleichnis stimmt nicht. Wir wüßten
genug, um uns ein Urteil über Gegenwärtiges und Jüngstvergangenes zu
bilden, wir wissen jedenfalls mehr, als spätere Zeiten wissen werden.
Eine andre Wurzel des Gleichnisses heißt, noch zu beteiligt sein. Aber
wir waren ja gar nicht beteiligt?
Die berühmte historische Distanz besteht darin, daß von hundert Tat-
sachen fünfundneunzig verlorengegangen sind, weshalb sich die verblie-
benen ordnen lassen, wie man will. Darin aber, daß man diese fünf
nun ansieht wie eine Mode von vor zwanzig Jahren oder ein lebhaftes
Gespräch zwischen Menschen, die man nicht hört, bekundet sich die
Objektivität. Man erschrickt über die Groteskheit menschlicher Hand-
lungen, sobald sie nur ein wenig ausgetrocknet sind, und sucht sie aus
allen Umständen zu erklären, die man nicht selbst ist, das ist aus den
historischen.