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BENNO REIFENBERG
nie müde, unerschöpflich produktiv (die Breite seines graphischen Werkes läßt sich heute
noch nicht übersehen, und viele Gemälde hält er zu Studienzwecken in seinen vier nor-
wegischen Ateliers verborgen). Als 1912 die Kölner Sonderbundausstellung den ersten
Rechenschaftbericht über ein neues geistiges Europa gab, ward Munch der Ehrensaal ein-
geräumt. In den Streit um die jüngste Kunst wurde er nicht hereingezogen. Der „Blaue
Reiter“ kannte seinen Namen nicht.
Das Züricher Kunsthaus brachte die erste große Munch-Ausstellung nach dem Krieg, die
größte vielleicht, die je zu sehen war. Diejenigen, die meinen, Munch gehöre der Ge-
schichte an, werden ihre Ansicht verteidigen müssen.
*
Es ist richtig: Insofern die nicht absehbaren Ereignisse unserer Tage zu ihrer geistigen
Bewältigung einer heiligen Nüchternheit, also der ungeheuersten Energieleistung des ge-
staltenden Genies bedürfen, insofern gehört die Künstlerschaft Munchs der Vergangen-
heit an. Die Anonymität der Masse, das rastlose Tempo, in dem — trotz minderen Blutes
— ihr Leben dahinbraust, die schweigsame Starrheit der Maschinengewalt, dies ist für die
Generation Munchs ein furchtbarer Schrecken, dem zum Trotz, aber nicht um dessent-
willen der Künstler arbeitet. Aber so gewiß und wahrhaftig Tausende und Tausende
ahnungslos in diesem Zeitalter leben, so gewiß der neue Menschheitgedanke kaum im
leisesten Schimmer zu erahnen ist, so gewiß wir noch wie selbstverständlich zwischen
den Bauten von 1900 wohnen, so gewiß endlich sind Munchs Gestalten noch Gegenwart.
Des neuen Künstlers Zeitgenossen sind an den Fingern zu zählen, und den Allzueiligen
sei gesagt, es wäre gut, sich noch um Edvard Munch zu kümmern. Wie viele haben
denn diese Erscheinung aus Nordland Äug’ in Äug’ gesehen? —
Der Name Edvard Munch wirft über die lichten Bilder der Impressionisten die erste
Dunkelkeit. Zwar war schon von Gauguin das Helle abgeblendet, in das Farbige von
Glas gewandelt worden, zwar hatte es schon in van Goghs kreisenden Pinselzügen zu zit-
tern, zu flackern begonnen — Munch aber brachte den Schatten. Ein Bild wie die „Me-
lancholie“, aus dessen Klang von Gelb, Rot und Orange vor winterlichem Weiß ein
Monet, ein Pissarro Lichtwunder gezaubert hätten, wird bei Munch nächtlich, düster bis
zum Wahnsinn. Melancholie steht über allen Werken Munchs geschrieben; das ist das
Zeichen seiner Stunde. In den Jahren um 1900 war es vorbei mit der Glückseligkeit des
Malens, mit der Lust an Farbe und Sonne. So wie es vorbei war mit den stillen, schlichten
Häusern, deren weiße Mauern einst, in einer — ach so fernen — Vergangenheit, aus der Erde
herausgewachsen waren. Das Volk des Jugendstils sparte nicht an Steinpracht, Holz-
und Eisenprunk. Doch was es baute, die Paläste, Banken, Warenhäuser, festigte sich
nicht. Im Vergleich zu früher schien alles wie zufällig, wie hingeweht. Die neuen Mauern
des Jahrhunderts standen fremd und starr auf betonierten Plänen. Wer kann sagen, was
den Zugang zur fruchtbaren Erde absperrte, was die Quellen des Lebens verstopfte?
BENNO REIFENBERG
nie müde, unerschöpflich produktiv (die Breite seines graphischen Werkes läßt sich heute
noch nicht übersehen, und viele Gemälde hält er zu Studienzwecken in seinen vier nor-
wegischen Ateliers verborgen). Als 1912 die Kölner Sonderbundausstellung den ersten
Rechenschaftbericht über ein neues geistiges Europa gab, ward Munch der Ehrensaal ein-
geräumt. In den Streit um die jüngste Kunst wurde er nicht hereingezogen. Der „Blaue
Reiter“ kannte seinen Namen nicht.
Das Züricher Kunsthaus brachte die erste große Munch-Ausstellung nach dem Krieg, die
größte vielleicht, die je zu sehen war. Diejenigen, die meinen, Munch gehöre der Ge-
schichte an, werden ihre Ansicht verteidigen müssen.
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Es ist richtig: Insofern die nicht absehbaren Ereignisse unserer Tage zu ihrer geistigen
Bewältigung einer heiligen Nüchternheit, also der ungeheuersten Energieleistung des ge-
staltenden Genies bedürfen, insofern gehört die Künstlerschaft Munchs der Vergangen-
heit an. Die Anonymität der Masse, das rastlose Tempo, in dem — trotz minderen Blutes
— ihr Leben dahinbraust, die schweigsame Starrheit der Maschinengewalt, dies ist für die
Generation Munchs ein furchtbarer Schrecken, dem zum Trotz, aber nicht um dessent-
willen der Künstler arbeitet. Aber so gewiß und wahrhaftig Tausende und Tausende
ahnungslos in diesem Zeitalter leben, so gewiß der neue Menschheitgedanke kaum im
leisesten Schimmer zu erahnen ist, so gewiß wir noch wie selbstverständlich zwischen
den Bauten von 1900 wohnen, so gewiß endlich sind Munchs Gestalten noch Gegenwart.
Des neuen Künstlers Zeitgenossen sind an den Fingern zu zählen, und den Allzueiligen
sei gesagt, es wäre gut, sich noch um Edvard Munch zu kümmern. Wie viele haben
denn diese Erscheinung aus Nordland Äug’ in Äug’ gesehen? —
Der Name Edvard Munch wirft über die lichten Bilder der Impressionisten die erste
Dunkelkeit. Zwar war schon von Gauguin das Helle abgeblendet, in das Farbige von
Glas gewandelt worden, zwar hatte es schon in van Goghs kreisenden Pinselzügen zu zit-
tern, zu flackern begonnen — Munch aber brachte den Schatten. Ein Bild wie die „Me-
lancholie“, aus dessen Klang von Gelb, Rot und Orange vor winterlichem Weiß ein
Monet, ein Pissarro Lichtwunder gezaubert hätten, wird bei Munch nächtlich, düster bis
zum Wahnsinn. Melancholie steht über allen Werken Munchs geschrieben; das ist das
Zeichen seiner Stunde. In den Jahren um 1900 war es vorbei mit der Glückseligkeit des
Malens, mit der Lust an Farbe und Sonne. So wie es vorbei war mit den stillen, schlichten
Häusern, deren weiße Mauern einst, in einer — ach so fernen — Vergangenheit, aus der Erde
herausgewachsen waren. Das Volk des Jugendstils sparte nicht an Steinpracht, Holz-
und Eisenprunk. Doch was es baute, die Paläste, Banken, Warenhäuser, festigte sich
nicht. Im Vergleich zu früher schien alles wie zufällig, wie hingeweht. Die neuen Mauern
des Jahrhunderts standen fremd und starr auf betonierten Plänen. Wer kann sagen, was
den Zugang zur fruchtbaren Erde absperrte, was die Quellen des Lebens verstopfte?