EDVARD MUNCH
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Es ist zu viel davon die Rede gewesen, daß er im Kreise der Przybyszewski, der Strind-
berg verkehrte, daß er die „Gespenster“ für Reinhardt inszenierte. Aber wenn die Orna-
mente der Rerceuse, der Blumenteppich hinter Roulin dem Postboten uns in dankbarerer
Erinnerung schweben, so kann vielleicht der Gedanke an Max Klinger einen Munch
vor dem Wort „literarisch“ bewahren. Um 1900, als die Einsamkeit über die Menschen
zusammenzuschlagen drohte, war das Plakat nicht Literatur, sondern die einzig legitime
Kunst. Freilich ging die Heiligkeit des Bildes verloren, insoweit es für sich gestellt sein
muß und des Beschauers entbehren soll, aber durch das Plakat blieb wenigstens die Ver-
bindung von Kunst und Leben bestehen, Kunst war in irgendeinem Betracht noch wirk-
lich. Man mußte einander zurufen, sich die Hände reichen. Es galt, sich verständlich zu
machen.
Doch wäre es Unrecht, zu verschweigen, daß wir heute manches an dieser Kunstübung
nicht mehr ertragen können. Dort, wo die Kurvatur reine Schönheit werden will, muß
sie versagen. Wenn Munch etwa als genaues Gegenstück zu jenem literarischen Zwitter
Frau, der als Mischung von Dirne und Madonna in grünlich-falschem Theaterlicht ent-
stand, aus Schwarz und Rot seine „Monna“ lithographierte, dann geriet er in jenen
schwächlichen Bezirk einer Dekoration, deren ornamentale Freude in dem schwanken
Blatt- und Stengelwerk der Mohnblume ihr Genüge fand. Der Munch dieser Kurvatur
war durch seine Zeit bedingt und wird mit ihr vergehen müssen.
*
Aber die Gesamterscheinung Edvard Munchs, so wie die Züricher Ausstellung sie einem
erstaunten Europa vorführte, auch nur einigermaßen mit dem Wort „literarisch“ umschrei-
ben zu wollen, wird ernsthaft niemand mehr wagen. Die Fragstellung, aus der eine solche
Bewertung stammt, ist ab initio falsch. Denn im Grunde handelt es sich nur um die
Stärke der Begabung. Es mag richtig sein, das Visionäre und die Kurvatur Munchs als
eine Art von Passivität zu empfinden. Aber es ist eine heroische Passivität, die plötzlich in
jene Activitas des Schöpfers umschlagen kann. Der Norweger wird einmal der Gestalter
des leeren Raums genannt werden. Er hat die Verbindungslosigkeit des modernen Men-
schen gesehen, er hat das Schicksalhafte in der Einsamkeit des Individuums erkannt.
Sein „Sterbezimmer“, dieses unfaßbar weite Zimmer, in dessen Eiskälte haltlose und zu-
fällige Geschöpfe ihr Wesen treiben, ist die schauerlichste Vision unseres Jahrhunderts
geworden. Munchs Raumempfinden ist gleich dem Alpdruck, und auf seinen Bildern ist
der rasend aus dem Nichts heranrollende Vorgrund Schicksal. Nicht umsonst hat er im-
mer und immer wieder diese Mädchengruppe auf dei’ Brücke gemalt, die, von der Stoß-
kraft der Balken getragen, über gähnenden Schatten im Fluß schwebt, flatternd, holde
Eintagsfliegen über dem Nichts.
Das große Selbstbild des Sechzigjährigen umschließt alles, was Munch zu sagen hat: die
strömende Farbe und die schwingende Linie, die Sehnsucht nach glücklichen Flächen
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Es ist zu viel davon die Rede gewesen, daß er im Kreise der Przybyszewski, der Strind-
berg verkehrte, daß er die „Gespenster“ für Reinhardt inszenierte. Aber wenn die Orna-
mente der Rerceuse, der Blumenteppich hinter Roulin dem Postboten uns in dankbarerer
Erinnerung schweben, so kann vielleicht der Gedanke an Max Klinger einen Munch
vor dem Wort „literarisch“ bewahren. Um 1900, als die Einsamkeit über die Menschen
zusammenzuschlagen drohte, war das Plakat nicht Literatur, sondern die einzig legitime
Kunst. Freilich ging die Heiligkeit des Bildes verloren, insoweit es für sich gestellt sein
muß und des Beschauers entbehren soll, aber durch das Plakat blieb wenigstens die Ver-
bindung von Kunst und Leben bestehen, Kunst war in irgendeinem Betracht noch wirk-
lich. Man mußte einander zurufen, sich die Hände reichen. Es galt, sich verständlich zu
machen.
Doch wäre es Unrecht, zu verschweigen, daß wir heute manches an dieser Kunstübung
nicht mehr ertragen können. Dort, wo die Kurvatur reine Schönheit werden will, muß
sie versagen. Wenn Munch etwa als genaues Gegenstück zu jenem literarischen Zwitter
Frau, der als Mischung von Dirne und Madonna in grünlich-falschem Theaterlicht ent-
stand, aus Schwarz und Rot seine „Monna“ lithographierte, dann geriet er in jenen
schwächlichen Bezirk einer Dekoration, deren ornamentale Freude in dem schwanken
Blatt- und Stengelwerk der Mohnblume ihr Genüge fand. Der Munch dieser Kurvatur
war durch seine Zeit bedingt und wird mit ihr vergehen müssen.
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Aber die Gesamterscheinung Edvard Munchs, so wie die Züricher Ausstellung sie einem
erstaunten Europa vorführte, auch nur einigermaßen mit dem Wort „literarisch“ umschrei-
ben zu wollen, wird ernsthaft niemand mehr wagen. Die Fragstellung, aus der eine solche
Bewertung stammt, ist ab initio falsch. Denn im Grunde handelt es sich nur um die
Stärke der Begabung. Es mag richtig sein, das Visionäre und die Kurvatur Munchs als
eine Art von Passivität zu empfinden. Aber es ist eine heroische Passivität, die plötzlich in
jene Activitas des Schöpfers umschlagen kann. Der Norweger wird einmal der Gestalter
des leeren Raums genannt werden. Er hat die Verbindungslosigkeit des modernen Men-
schen gesehen, er hat das Schicksalhafte in der Einsamkeit des Individuums erkannt.
Sein „Sterbezimmer“, dieses unfaßbar weite Zimmer, in dessen Eiskälte haltlose und zu-
fällige Geschöpfe ihr Wesen treiben, ist die schauerlichste Vision unseres Jahrhunderts
geworden. Munchs Raumempfinden ist gleich dem Alpdruck, und auf seinen Bildern ist
der rasend aus dem Nichts heranrollende Vorgrund Schicksal. Nicht umsonst hat er im-
mer und immer wieder diese Mädchengruppe auf dei’ Brücke gemalt, die, von der Stoß-
kraft der Balken getragen, über gähnenden Schatten im Fluß schwebt, flatternd, holde
Eintagsfliegen über dem Nichts.
Das große Selbstbild des Sechzigjährigen umschließt alles, was Munch zu sagen hat: die
strömende Farbe und die schwingende Linie, die Sehnsucht nach glücklichen Flächen