DIE RUSSEN IN BERLIN
297
anderem die bekannte altfranzösische Romanze „Le roi fait battre tambour“, die Geschichte
vom König, der seinem Marquis die Frau nehmen wollte. Die Gestalten scheinen aus einem
phantastischem Kartenspiel ausgeschnitten und spielen so, stramm schematisch. Nur der
sprechende Acteur regt sich marionettenhaft, die anderen sind starr. Tolle Kostüme, nur
aus Farbe und ganz starken Linien. Wie sich das Kinder zurechtmachen, Kinder, denen
etwas einfällt. Dabei ernst, tiefernst. Wenn die Königin in ihrer schraubenartigen Krino-
line aus gestreiften Pneus der Marquise den giftigen Holunder reicht, und die Ärmste
a tempo umfällt, ist von der berüchtigten russischen Psychologik keine Rede mehr. Der
König starrt, der Marquis kniet, der Narr winselt seinen blöden Refrain, alles bildhaft bis
zum Exzeß, bis zur Erschütterung des atemlosen Zuschauers.
Ein blutjunger Russe Tschalischtschew hat das Ding gezeichnet, gemalt, genäht, ein Kubist.
Man schwört angesichts dieser Dinge auf den Kubismus. Hier paßt das Schema. Es bringt
einen Modernismus von märchenhafter Prägnanz hervor, unwiderstehlich. Vergessen wir
bei dieser Gelegenheit nicht die in Paris wirkenden Führer dieser modernen Theaterkunst,
den Russen Larionow und seine Gattin Gontscharowa, denen vielleicht auch unsere Gäste
manche Belehrung verdanken. Die Russen sind bisher die einzigen glücklichen Erben der
letzten europäischen Kunst. Was man bei uns in der Art versucht hat, war wüstes Gepolter
oder Verstiegenheit. Das schwedische Ballett, das unter dem feinsinnigen Mäcen und Samm-
ler De Mare in Berlin gastierte, brachte interessante Experimente nach Pariser Künstlern, die
zuweilen den Maler, nicht immer den Theaterfreund amüsierten und oft im Format vor-
beigerieten. Die Russen sind dem letzten Europa an Takt überlegen. (Im Krieg die Kosaken,
die uns transportierten: sie hatten Ungeziefer, heillose Gewohnheiten, aber Takt.) Sie
haben ihr Nitschewo, füllen jedes doktrinäre Schema der Zivilisation mit ihrem Lachen,
ihrem Tanz, drehen sich aus dem Maschinenstil ein dekoratives Nitschewo. Ein tolles Volk.
Sie sterben wie sie tanzen. An dem ganzen Abend in dem „Blauen Vogel“ nicht eine An-
spielung auf die Lage Rußlands. Notabene auch nicht eine Zote, nicht die geringste. Man
kann Backfische hinführen. Dabei kribbelts einem in den Fingerspitzen. Man soll alle
Backfische hinführen und ihre Eltern und Großeltern und Kindeskinder. Damit sie den
applizierten Kubus lernen? 1 wo. Damit sie russisch lernen? Erst recht nicht. Auch nicht
den russischen Takt. Der ist nicht zu lernen. — Damit sie sich amüsieren, wie sich glück-
liche Kinder amüsieren. Sogar verwahrloste Kinder. Nitschewo.
Unter dem Großen Kurfürsten und seinen Nachfolgern wurden viel französische Hugenotten
hier aufgenommen, und diese Gastlichkeit hat der Berliner Kultur, solange sie da war, gut
bekommen. Ein Jammer, daß diese Geschichte nicht fünfzig Jahre früher passierte, als
bei uns noch der französische Import lebendig war. Da hätte unser Reich der Mitte eine
gewaltige Aufgabe gehabt. Das Nitschewo von der einen Seite, der gallische Hahn von der
anderen: das hätte unserem dicken Gemüt und unserem unentwegten Fleiß gut getan.
Nun müssen wir es bis auf weiteres, hoffentlich nicht zu lange, allein mit der rechten Seite
297
anderem die bekannte altfranzösische Romanze „Le roi fait battre tambour“, die Geschichte
vom König, der seinem Marquis die Frau nehmen wollte. Die Gestalten scheinen aus einem
phantastischem Kartenspiel ausgeschnitten und spielen so, stramm schematisch. Nur der
sprechende Acteur regt sich marionettenhaft, die anderen sind starr. Tolle Kostüme, nur
aus Farbe und ganz starken Linien. Wie sich das Kinder zurechtmachen, Kinder, denen
etwas einfällt. Dabei ernst, tiefernst. Wenn die Königin in ihrer schraubenartigen Krino-
line aus gestreiften Pneus der Marquise den giftigen Holunder reicht, und die Ärmste
a tempo umfällt, ist von der berüchtigten russischen Psychologik keine Rede mehr. Der
König starrt, der Marquis kniet, der Narr winselt seinen blöden Refrain, alles bildhaft bis
zum Exzeß, bis zur Erschütterung des atemlosen Zuschauers.
Ein blutjunger Russe Tschalischtschew hat das Ding gezeichnet, gemalt, genäht, ein Kubist.
Man schwört angesichts dieser Dinge auf den Kubismus. Hier paßt das Schema. Es bringt
einen Modernismus von märchenhafter Prägnanz hervor, unwiderstehlich. Vergessen wir
bei dieser Gelegenheit nicht die in Paris wirkenden Führer dieser modernen Theaterkunst,
den Russen Larionow und seine Gattin Gontscharowa, denen vielleicht auch unsere Gäste
manche Belehrung verdanken. Die Russen sind bisher die einzigen glücklichen Erben der
letzten europäischen Kunst. Was man bei uns in der Art versucht hat, war wüstes Gepolter
oder Verstiegenheit. Das schwedische Ballett, das unter dem feinsinnigen Mäcen und Samm-
ler De Mare in Berlin gastierte, brachte interessante Experimente nach Pariser Künstlern, die
zuweilen den Maler, nicht immer den Theaterfreund amüsierten und oft im Format vor-
beigerieten. Die Russen sind dem letzten Europa an Takt überlegen. (Im Krieg die Kosaken,
die uns transportierten: sie hatten Ungeziefer, heillose Gewohnheiten, aber Takt.) Sie
haben ihr Nitschewo, füllen jedes doktrinäre Schema der Zivilisation mit ihrem Lachen,
ihrem Tanz, drehen sich aus dem Maschinenstil ein dekoratives Nitschewo. Ein tolles Volk.
Sie sterben wie sie tanzen. An dem ganzen Abend in dem „Blauen Vogel“ nicht eine An-
spielung auf die Lage Rußlands. Notabene auch nicht eine Zote, nicht die geringste. Man
kann Backfische hinführen. Dabei kribbelts einem in den Fingerspitzen. Man soll alle
Backfische hinführen und ihre Eltern und Großeltern und Kindeskinder. Damit sie den
applizierten Kubus lernen? 1 wo. Damit sie russisch lernen? Erst recht nicht. Auch nicht
den russischen Takt. Der ist nicht zu lernen. — Damit sie sich amüsieren, wie sich glück-
liche Kinder amüsieren. Sogar verwahrloste Kinder. Nitschewo.
Unter dem Großen Kurfürsten und seinen Nachfolgern wurden viel französische Hugenotten
hier aufgenommen, und diese Gastlichkeit hat der Berliner Kultur, solange sie da war, gut
bekommen. Ein Jammer, daß diese Geschichte nicht fünfzig Jahre früher passierte, als
bei uns noch der französische Import lebendig war. Da hätte unser Reich der Mitte eine
gewaltige Aufgabe gehabt. Das Nitschewo von der einen Seite, der gallische Hahn von der
anderen: das hätte unserem dicken Gemüt und unserem unentwegten Fleiß gut getan.
Nun müssen wir es bis auf weiteres, hoffentlich nicht zu lange, allein mit der rechten Seite