DIE ZUKUNFT DER KUNSTKRITIK
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gekommen sind. Die Krisis ist also „seit Menschengedenken“ unser natürlicher Zustand.
Sie dauerte fort, auch wenn die Waffen zeitweilig ruhten und das Allgemeinbefinden
Europas normal zu sein schien.
Die soziale Voraussetzung für die Kunstkritik ist das Publikum, genauer gesagt: das groß-
städtische Publikum. Ein Volk, diese letzte und höchste Gemeinschaft der Menschen, be-
darf der Kunstkritik kaum und um so weniger, je gefestigter seine Kultur ist. Seine Kunst-
erzeugnisse erwachsen ihm aus herkömmlicher Übung; das am wenigsten Fragwürdige
an ihnen ist ihre Form, und die Bindung des Stils wird in all ihrer Festigkeit nie drük-
kend, da der Einzelne sie nicht spürt, sowenig wie er den Druck der Atmosphäre spürt,
in der er atmet. Das Volk irrt nicht in Fragen des Geschmacks und kann nicht irren, denn
sein Geschmack oder sein Stilwille ist ein Ausdruck seiner Seele. Er ist eine Gegebenheit
in Ägypten und in Hellas, im europäischen Mittelalter wie bei den angeblich primitiven
Kulturen sogenannter Naturvölker.
Allein haben wir noch ein Volk? — Dürfen wir die von Klassenkämpfen zerrissenen
Nationen Europas mit ihren sich international ausrufenden Parteien noch Völker nennen ?
— Wohl redet man mehr als je vom Volke, allein man treibt mit seinem heiligen Namen
wie mit dem der Freiheit den gräßlichsten Mißbrauch. „Volkskunst“ ist zu einer Spezia-
lität neben anderen herabgesunken, wenn nicht unter anderen. Man spricht von ihr wie
von einem Nationalgericht. Denn das Volk hat längst seine Gerechtsame abgegeben an
jene ungewählte, wahrlich sehr wenig gewählte Volksvertretung, an das Publikum. Das
Publikum aber ist alles das, was das Volk nicht ist: seelenlos, auf Neues erpicht und gleich-
zeitig stumpf, launenhaft, des Instinktes bar und am allerunsichersten eben in Geschmacks-
fragen. Das Volk ist mannigfaltig, das Publikum ist gemischt. Es will bevormundet sein,
obwohl es von Zeit zu Zeit gereizt seine Souveränität auch in diesen Dingen behaupten
läßt. Das Publikum also will die Kritik; es hat sie hervorgebracht. Sie stellte sich pünkt-
lich ein, als im Pariser Salon sich um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zuerst ein
Publikum von Kunstgenießern gebildet hatte.
Es heißt nun wohl, daß die Kritik auch für die Künstler da sei. Menzel hat es sogar ein-
mal beklagt, daß es ihm und seinen Zeitgenossen zuallermeist an der rechten Kritik ge-
fehlt habe. Allein der Künstler, der im übrigen der Kritik bekanntlich wenig gewogen zu
sein pflegt — „schlagt ihn tot, den Hund, er ist ein Rezensent!“ —, also der Künstler ver-
langt doch nur nach ihr um seines Interesses am Publikum willen. Er braucht sie viel
mehr aus wirtschaftlichen als aus ästhetischen Gründen. Menzel ist mißverstanden worden.
Die Kritik, die er sich wünschte, sollte die Kritik sein, die allerdings jeder Künstler be-
nötigt, die mitfühlende Prüfung der Arbeit durch einen schöpferisch Begabten und Er-
fahrenen. Solche Kritik ist Balsam. Sie bedarf nicht vieler Worte und wird für gewöhn-
lich mündlich abgegeben. Sie kommt von Künstlern, ausnahmsweise auch wohl einmal
von einem ihnen innig verwandten Kunstfreund. Man könnte sich vorstellen, daß einer
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gekommen sind. Die Krisis ist also „seit Menschengedenken“ unser natürlicher Zustand.
Sie dauerte fort, auch wenn die Waffen zeitweilig ruhten und das Allgemeinbefinden
Europas normal zu sein schien.
Die soziale Voraussetzung für die Kunstkritik ist das Publikum, genauer gesagt: das groß-
städtische Publikum. Ein Volk, diese letzte und höchste Gemeinschaft der Menschen, be-
darf der Kunstkritik kaum und um so weniger, je gefestigter seine Kultur ist. Seine Kunst-
erzeugnisse erwachsen ihm aus herkömmlicher Übung; das am wenigsten Fragwürdige
an ihnen ist ihre Form, und die Bindung des Stils wird in all ihrer Festigkeit nie drük-
kend, da der Einzelne sie nicht spürt, sowenig wie er den Druck der Atmosphäre spürt,
in der er atmet. Das Volk irrt nicht in Fragen des Geschmacks und kann nicht irren, denn
sein Geschmack oder sein Stilwille ist ein Ausdruck seiner Seele. Er ist eine Gegebenheit
in Ägypten und in Hellas, im europäischen Mittelalter wie bei den angeblich primitiven
Kulturen sogenannter Naturvölker.
Allein haben wir noch ein Volk? — Dürfen wir die von Klassenkämpfen zerrissenen
Nationen Europas mit ihren sich international ausrufenden Parteien noch Völker nennen ?
— Wohl redet man mehr als je vom Volke, allein man treibt mit seinem heiligen Namen
wie mit dem der Freiheit den gräßlichsten Mißbrauch. „Volkskunst“ ist zu einer Spezia-
lität neben anderen herabgesunken, wenn nicht unter anderen. Man spricht von ihr wie
von einem Nationalgericht. Denn das Volk hat längst seine Gerechtsame abgegeben an
jene ungewählte, wahrlich sehr wenig gewählte Volksvertretung, an das Publikum. Das
Publikum aber ist alles das, was das Volk nicht ist: seelenlos, auf Neues erpicht und gleich-
zeitig stumpf, launenhaft, des Instinktes bar und am allerunsichersten eben in Geschmacks-
fragen. Das Volk ist mannigfaltig, das Publikum ist gemischt. Es will bevormundet sein,
obwohl es von Zeit zu Zeit gereizt seine Souveränität auch in diesen Dingen behaupten
läßt. Das Publikum also will die Kritik; es hat sie hervorgebracht. Sie stellte sich pünkt-
lich ein, als im Pariser Salon sich um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zuerst ein
Publikum von Kunstgenießern gebildet hatte.
Es heißt nun wohl, daß die Kritik auch für die Künstler da sei. Menzel hat es sogar ein-
mal beklagt, daß es ihm und seinen Zeitgenossen zuallermeist an der rechten Kritik ge-
fehlt habe. Allein der Künstler, der im übrigen der Kritik bekanntlich wenig gewogen zu
sein pflegt — „schlagt ihn tot, den Hund, er ist ein Rezensent!“ —, also der Künstler ver-
langt doch nur nach ihr um seines Interesses am Publikum willen. Er braucht sie viel
mehr aus wirtschaftlichen als aus ästhetischen Gründen. Menzel ist mißverstanden worden.
Die Kritik, die er sich wünschte, sollte die Kritik sein, die allerdings jeder Künstler be-
nötigt, die mitfühlende Prüfung der Arbeit durch einen schöpferisch Begabten und Er-
fahrenen. Solche Kritik ist Balsam. Sie bedarf nicht vieler Worte und wird für gewöhn-
lich mündlich abgegeben. Sie kommt von Künstlern, ausnahmsweise auch wohl einmal
von einem ihnen innig verwandten Kunstfreund. Man könnte sich vorstellen, daß einer