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HEIDELBERGER

N°. 19. HEIDELBERGER ' 1835.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.

Gedichte von Gustav Pfizer.
, (Besckluf s.J
Etwas unheimlicher, und an die finsteren Lehrgedichte der
ersten Sammlung erinnernd, tritt dagegen der Geist des Skepti-
cismus in dem langen Gedichte » Gerontes « (symbolisch in epi-
scher Form) hervor (S. 222-—240.), und nicht nur die dürre
Knochenhand, sondern das ganze Knochengerippe streckt er, ohne
jedoch die Verse zu verpfuschen, in den schauerlichen Cyclus
von Gedichten herein, der »die Tafelrunde “ betitelt ist (S. i32
bis 156.), und in welchem ein Dutzend Freunde dargestellt wird,
die, auf Veranstaltung des trübseligsten Philosophen unter ihnen,
aus dem Schädel eines vor Jahresfrist gestorbenen Freundes als
Trinkschale zechen und, jeder auf seine Weise, den schauerli-
chen Pokal apostrophiren. Der Gegenstand ist kannibalisch ge-
wählt, aber wir können dem Dichter unsere Bewunderung nicht
versagen, dessen düsterer Humor unsern Widerwillen zu besiegen
weifs, und uns durch den seltenen Trank tiefsinniger Meditation,
den er uns in der gräfslichen Schale reicht, unversehens zu Mit-
schuldigen des schauerlichen Umtrunks macht.
Wohlthätiger ist der Eindruck, den die Anwendung der
Symbolik des Dichters auf die politischen Zeiterscheinungen her-
vorbringt, und das schöne Gedicht: »Mythe“ (S. 298.), in wel-
chem die Freiheit mit dem Loose des Tithonus verglichen wird,
der bis zur wesenlosen Stimme eingeschrumpft ist, die aber
nicht untergehen kann , die sich frischen Leib und goldne Waffen
aus dem Nichts schaffen wird, mag wohl seines Gleichen suchen.
Aus der tiefsten Schmerzempfindung ist »Lethe« entstanden
(S. 3oo.), wo die Dichterseele den Versuch macht, sich nach
dem Untergange Polens, dem einige seiner schönsten Lieder ge-
sungen sind, aus der trüben Gegenwart in einen gewissen Egois-
mus der Poesie hinüberzuflüchten, was aber umsonst ist; die
Zither der Freude ist saiteplos, verstummt ist der Ruf der Vögel,
der Pokal ist gallenbitter, der Mund der Geliebten ist kalt:
Ziehen möcht’ich in die Wüste,
Wo die Winde wehn so traurig
Und die Brut der Löwin schaurig
Wimmert um der Mutter Brüste;
XXVIII. Jahrg. 3. Heft.

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