108 Andreas Marneros
Vor 2400 Jahren stellte Aristoteles in seinem Buch „Problemata physica" die
Frage: „Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie
oder Politik, in Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker?1 Er selbst gab
keine verbindliche Antwort auf diese Frage. Als ich vor einiger Zeit einen Vor-
trag zu diesem Thema mit eben jenem Zitat von Aristoteles begann, unter-
brach mich ein sichtlich empörter Kollege, um mir zuzurufen: „Hier irrte Aris-
toteles!" Obwohl ich verständlicherweise nie akzeptieren kann, dass ein
Grieche sich jemals irren könnte, habe ich dieses Mal dem empörten Kollegen
zugestimmt, mit der Einschränkung, dass wir nur dann annehmen können,
Aristoteles habe sich geirrt, wenn wir sein Wort „alle" wortwörtlich nehmen.
Ich möchte unmissverständlich betonen:
• Es gibt keinen Zweifel daran: Depression ist Schmerz, Hoffnungslosigkeit,
Dunkelheit und kann todbringend sein.
• Es gibt auch keinen Zweifel daran: Manie ist Explosion, ist isolierend und
kann zerstörend sein.
• Es gibt keinen Zweifel daran: Wahn und Halluzinationen in den produktiv-
psychotischen, etwa schizoaffektiven Formen von unipolaren und bipolaren
Erkrankungen kapseln den Menschen in eine eigene und eigenartige Welt
ein - „privat" und „privativ" nach den Worten von Scharfetter - sie isolie-
ren, quälen, stempeln ab.
• Es gibt keinen Zweifel daran: Man hat ein schweres Kreuz zu tragen, wenn
man an einer unipolaren oder bipolaren Erkrankung leidet.
Aber die Griechen wussten auch folgendes: „Ouden kakon amiges kalou". Also:
„Alles Schlimme enthält auch Gutes" - und umgekehrt.
In nicht zu übertreffender, kompetenter Form wird dies auch für die affek-
tiven Erkrankungen bestätigt durch Kay Redfield Jamison (1995), die ausge-
zeichnete Wissenschaftlerin, faszinierende Autorin und Patientin, die an einer
schweren, psychotischen bipolaren Erkrankung leidet. Sie schreibt: „I have offen
asked myselj whether, given the choice, I would choose to have manic-depressive
illness. If lithiutn were not available to me, or didn 't work for me, the answer
would be a simple no - and it would be an answer laced with terror. But lithium
does work for me, and therefore I suppose I can afford to pose the question.
Strangely enough I think I would choose to have it. It's complicated." Jamison
stellt in ihrem fesselnden Buch „Touched with Fire" (1994) positive Beziehungen
zwischen „manic-depressive illness'1 und „artistic temperament" fest.
Außergewöhnliche Kreativität wurde seit der griechischen Antike als einer der
positivsten Aspekte manisch-depressiver Erkrankungen angesehen. Schon Sokra-
tes, Piaton, Aristoteles, Hippokrates oder Demokrit vermuteten eine Verbindung
zwischen Kreativität bzw. Genialität und krankhaften psychischen Konstellatio-
nen. Bezeichnend hierfür ist eine vielzitierte Episode zwischen Hippokrates und
Demokrit: Das Verhalten von Demokrit, dem Begründer der Atomphilosophie,
Vor 2400 Jahren stellte Aristoteles in seinem Buch „Problemata physica" die
Frage: „Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie
oder Politik, in Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker?1 Er selbst gab
keine verbindliche Antwort auf diese Frage. Als ich vor einiger Zeit einen Vor-
trag zu diesem Thema mit eben jenem Zitat von Aristoteles begann, unter-
brach mich ein sichtlich empörter Kollege, um mir zuzurufen: „Hier irrte Aris-
toteles!" Obwohl ich verständlicherweise nie akzeptieren kann, dass ein
Grieche sich jemals irren könnte, habe ich dieses Mal dem empörten Kollegen
zugestimmt, mit der Einschränkung, dass wir nur dann annehmen können,
Aristoteles habe sich geirrt, wenn wir sein Wort „alle" wortwörtlich nehmen.
Ich möchte unmissverständlich betonen:
• Es gibt keinen Zweifel daran: Depression ist Schmerz, Hoffnungslosigkeit,
Dunkelheit und kann todbringend sein.
• Es gibt auch keinen Zweifel daran: Manie ist Explosion, ist isolierend und
kann zerstörend sein.
• Es gibt keinen Zweifel daran: Wahn und Halluzinationen in den produktiv-
psychotischen, etwa schizoaffektiven Formen von unipolaren und bipolaren
Erkrankungen kapseln den Menschen in eine eigene und eigenartige Welt
ein - „privat" und „privativ" nach den Worten von Scharfetter - sie isolie-
ren, quälen, stempeln ab.
• Es gibt keinen Zweifel daran: Man hat ein schweres Kreuz zu tragen, wenn
man an einer unipolaren oder bipolaren Erkrankung leidet.
Aber die Griechen wussten auch folgendes: „Ouden kakon amiges kalou". Also:
„Alles Schlimme enthält auch Gutes" - und umgekehrt.
In nicht zu übertreffender, kompetenter Form wird dies auch für die affek-
tiven Erkrankungen bestätigt durch Kay Redfield Jamison (1995), die ausge-
zeichnete Wissenschaftlerin, faszinierende Autorin und Patientin, die an einer
schweren, psychotischen bipolaren Erkrankung leidet. Sie schreibt: „I have offen
asked myselj whether, given the choice, I would choose to have manic-depressive
illness. If lithiutn were not available to me, or didn 't work for me, the answer
would be a simple no - and it would be an answer laced with terror. But lithium
does work for me, and therefore I suppose I can afford to pose the question.
Strangely enough I think I would choose to have it. It's complicated." Jamison
stellt in ihrem fesselnden Buch „Touched with Fire" (1994) positive Beziehungen
zwischen „manic-depressive illness'1 und „artistic temperament" fest.
Außergewöhnliche Kreativität wurde seit der griechischen Antike als einer der
positivsten Aspekte manisch-depressiver Erkrankungen angesehen. Schon Sokra-
tes, Piaton, Aristoteles, Hippokrates oder Demokrit vermuteten eine Verbindung
zwischen Kreativität bzw. Genialität und krankhaften psychischen Konstellatio-
nen. Bezeichnend hierfür ist eine vielzitierte Episode zwischen Hippokrates und
Demokrit: Das Verhalten von Demokrit, dem Begründer der Atomphilosophie,