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Brodersen, Kai; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Wahn Welt Bild: die Sammlung Prinzhorn ; Beiträge zur Museumseröffnung — Berlin, Heidelberg [u.a.], 46.2002

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https://doi.org/10.11588/diglit.4062#0379

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Kunst hat einen transitorischen Körper 3»7

wurden, und vertritt die These, dass einige Aspekte von Kreativität sicherlich
allgemeinen Gesetzen unterliegen, andere aber den individuellen Umständen
und Charaktereigenschaften dieser Personen zuzuordnen sind. So sei einer der
prägenden Faktoren bei einer Person mit schizoiden Charakterzügen die Ten-
denz, sich zurückzuziehen und sich dem Kontakt mit Anderen nicht auszuset-
zen: „Da die meisten kreativen Aktivitäten im Alleingang und in Einsamkeit
von sich gehen, bedeutet dies, dass die schizoide Person die Probleme, welche
direkte Beziehungen mit sich bringen, vermeiden kann. Wenn er/sie schreibt,
malt oder komponiert, kommuniziert er/sie natürlich. Aber es ist eine Kommu-
nikation, die auf den eigenen Spielregeln basiert, die Situation ist ganz und gar
unter ihrer Kontrolle."3

Ich glaube, dass Storrs Gedanken einen direkten Bezug zur Frage herstel-
len, warum es Künstler überhaupt interessiert, in einer therapeutischen Si-
tuation zu arbeiten. Wenn wir das Bedürfnis des Einzelnen, schöpferisch tätig
zu sein, auf dieselbe Quelle zurückführen, die auch Chaos und Leiden für
psychisch kranke Menschen verursacht, würde das bedeuten, dass es eine
tiefe innere Verbindung zwischen dem Hervorbringen von Kunst und von
Symptomen psychischer Krankheit gibt - wobei natürlich diese angenom-
mene Verbindung zwischen Psychose und Kunst nicht etwa zu dem Schluss
„Je psychotischer der Künstler, desto besser die Kunst" führen soll. Der
Künstler hat nur vielleicht Erfahrungen, die mit denjenigen von psychisch
Kranken vergleichbar sind - wenn auch in ungleich erträglicherer, zeitlich
begrenzter und zu bewältigender Form. In einem gewissen Maß haben
Künstler einen Weg gefunden, mit ihren Schwierigkeiten umzugehen, der
sozial mehr oder weniger toleriert, ja in wenigen Fällen sogar gesellschaftlich
anerkannt und gefeiert wird.

Das Tolerieren schwieriger Gefühle und die Begabung, diese in eine Gestalt zu
bringen, bildet ein starkes Bündnis zwischen Künstlern und Menschen mit
psychotischen Erfahrungen. Der Wahn kann ja nach Benedetti als eine kreative
Leistung betrachtet werden.4 Waren die Ideen der Romantiker und Surrealisten
über das Verhältnis von Kunst und Psychose auch etwas naiv, so wurde doch die
ihre Bereitschaft, mit den Schöpfungen psychisch kranker Menschen in Verbin-
dung zu treten - gerade auch anlässlich der Entdeckung der Sammlung Prinz-
horn - zu einem Fundament, auf dem Jahrzehnte später der Einsatz von Kunst als
therapeutischem Instrument aufbauen konnte. Ihre Auffassungen zeugten
zumindest von einer Ahnung davon, dass Gesundheit und Wahnsinn nicht so
säuberlich voneinander zu isolieren waren, wie manche Zeitgenossen gerne ge-
glaubt hätten. Indem die Surrealisten die Grenzen der Kunst gegenüber psycho-
tischen Erfahrungen öffneten, die Verbindungen zur Psychiatrie untersuchten
und Kunst gleichsam als „transitorischen Körper" zwischen Innenleben und
Außenwelt ansahen, eröffneten sie einen Zugang zu einem bisher unentdeckten
Terrain, auf dem ihnen andere später folgen konnten.

3 Storr 1972, S. 80, transl. McGlynn.

4 Benedetti 1999, S. 49 ff
 
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