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war nicht in Bagrdan geboren. Seine Wiege stand
in Südbulgarien in der Nähe von Kasanlik jenseits
des Balkan. Er kam in seiner frühesten Jugend nach
Serbien, diente hier bei verschiedenen Gemüsebauern
seines Stammes und wurde schließlich selbständiger
Gemüsegärtner. — Im Orient befindet sich nämlich
der Gemüsebau durchgehends in den Händen der Bul-
garen. Dieselben findet man selbst auch in Ungarn
sind Kroatien bis Budapest und Agram hinauf. Diefer
Erwerbszweig ist um so lohnender, da die Bauern in
diesen Ländern für den Gemüsebau keinen Sinn haben
und das Gemüse, gleich den Stadtbewohnern, stets von
den gemüsebautreibenden Bulgaren beziehen. Jeder
Gemüsebauer hat mehrere Wägen, mit welchen er seine
Produkte täglich in die umliegenden Ortschaften be-
fördert.
Selbständig geworden, heiratete Brkin Koja und
lebte mit seiner Gattin in bester Eintracht. Dieser Ehe
entsproß ein Sohn, welchem der Pate in der Taufe den
Namen Gligorije (Gregor) gab. - Bei den Orientchristen
bestimmt nämlich immer der Pate den Namen des
Täuflings. Alle Kinder eines Ehepaares werden von
einer und derselben. Persönlichkeit, die aber immer ein
Mann sein muß, aus der Taufe gehoben. Nur im
Falle des Todes oder der Verhinderung tritt der Er-
satzmann ein. Dieser Zeuge ehelichen Glückes befestigte
das Band zwischen den beiden Ehegatten noch mehr.
Als Gligorije älter wurde und mehr zur Ackerkultur
als zum Gemüsebau hinneigte, kaufte dessen Vater mit
seinen Ersparnissen eine kleine Realität, auf welcher
hauptsächlich Feldbau, die Gemüsekultur aber vielmehr
als Zerstreuung und Lieblingsbeschäftigung des bereits
alternden Brkin Koja betrieben wurde.
Gligorije war, was Arbeitslust anbetrisft, seinem
Vater nachgeraten. Er arbeitete und schasste vom
frühen Morgen bis zum späten Abend und kümmerte
sich um das'Thun und Treiben seiner Altersgenossen
fast gar nicht. Nur an Sonn- und Feiertagen erschien
er lnsweilen in der Gesellschaft derselben. Sobald
aber die Sonnenhitze nachließ, entfernte er sich meist
still und ohne Gruß, um nicht zurückgehalten zu werden.
Zu Hause angekvmmen, vertauschte er seinen Sonntags-
anzug mit Werktagskleidern und trieb die Ochsen auf
die Weide oder hielt auf dem Felde Umschau. Mar-
der -Grund und Boden seines Vaters bestellt, so
arbeitete Gligorije mit seinen Ochsen oder Pferden
bei anderen Bauern im Dorfe oder führte aus der
Landstraße Handelswaren ab und zu. „Ehrliche Arbeit
ist keine Schande und das Geld wird immer seltener,"
pflegte er zu sagen, wenn ihn seine Altersgenossen
wegen seines Fleißes neckten. „Besser etwas verdienen,
als ans dem Faulpelze liegen."
Dieser fleißige und anspruchslose Jüngling war
es, der das ganze Sinnen und Denken der reichen und
schönen Bauerstochter beschäftigte. Justina liebte ihn
nicht erst seit heute oder gestern; ihre erste Liebes-
neigung, die sie als ausblühende Knospe empfand, galt
ihm. Sie liebte ihn mit jener Wärme, deren nur die
Orientalin, welche nur Gleichgiltigkeit und verzehrende
Liebesglut kennt, fähig ist. Wie oft Hütte sie ihm
ihre heiße Liebe zu ihm gestanden, aber es fehlte ihr
entweder die Gelegenheit hiezu — die Häuser der
Eltern der beiden standen an den entgegengesetzten
Enden des Dorfes — oder es versagte ihr, wenn sie
zufällig mit Gligorije zusammenkam, die Sprache den
Dienst. Alle Burschen des Dorfes umschwärmten das
Haus ihrer Eltern, nur Gligorije kam nicht. Und
selbst wenn er in Gesellschaft feiner Altersgenossen
dorthin kam, schien er ihre Nähe absichtlich zu meiden.
Sie bat auch ihre Freundin Stana um die Ueber-
bringung ihrer Liebesbotschaft an Gligorije. Ob sie
ihm dieselbe überbracht hat? Sie sagte es wenigstens.
In Liebesangelegenheiten darf man der besten Freundin
nicht volles Vertrauen schenken. Dieser Zustand war
unerträglich. Endlich wurde sie vom Glück begünstigt.
Eines Abends ging Justina vom Weingarten nach
Hause. Der Weg sührte an einem Zigeunerlager
vorbei. Als sie eilenden Schrittes Vorbeigehen wollte,
trat Gligorije aus einem Zelte heraus. Dem Burschen
schoß das Blut in die Wangen als er des Mädchens
ansichtig wurde. Er waudte sich ab, um seine Ver-
legenheit zu verbergen. Auch schämte er sich, daß sie
ihn bei den Zigeunern gesehen hat. Schon wollte er
unter das Zelt zurückkehren. Zu spät!
„Komm, Gligorije, komm!" rief ihm Justina ent-
gegen. „Gerade recht, daß ich Dich treffe, wir gehen
zusammen. Du gehst doch auch nach Hause?"
„Ja, ich gehe auch nach Hause," erwiderte Gligorije
gleichgiltig.
„Da, nimm Pfirsiche!"
„Diese sind aber schön und groß!"
„Hätte ich gewußt, daß ich Dich finden werde, so
hätte ich gewiß noch schönere gebracht."
„Hm!"
„Warum kommst Du mit den anderen Burschen
so selten vor unser Haus, Gligorije?"
„Es gibt immer zu thun zu Hause," erwiderte der
Gefragte in gleichgültigem Tone.

IllustrirLe Welt.

„Zu thun! Du wirst dann genug zu thun haben,
wenn Du den Besitz Deines Vaters übernehmen wirst.
Jetzt könntest Du Dich mit Deinen Altersgenossen und
den Mädchen des Dorfes wohl mitunter ein wenig
unterhalten."
„Hm! Man muß immer arbeiten."
„Aber sage Du mir, Gligorije, was hast Du bei
den Zigeunern zu thun?"
Gligorije antwortete nicht gleich. Seine Wangen
übergoß abermals eine intensive Röte, während seine
Augen unheimlich erglänzten. Er sammelte sich jedoch
bald und antwortete:
„Man hat zuweilen auch bei den Zigeunern zu
thun."
„Hast Du Dir vielleicht die Zukunft prophezeien
lassen?" fragte Justina mit einem verzehrenden Blick.
„Natürlich! Das würde mir gerade noch abgehen!
Ich war nicht bei den Zigeunern, sondern bei dem
Meister Laka, der mir für die Pferde einige Huf-
eisen schmiedet."
„Ist denn die Arbeit unserer Schmiede nicht besser?"
„Ob sie besser ist, weiß ich nicht, aber daß unsere
Leute dafür viel mehr verlangen, das habe ich leider-
schon oft erfahren. Das Geld wird immer seltener,
man muß daher schauen, wie und wo man einige
Paras (Centimes) ersparen kann."
Gligorije und Justina schritten eine Weile still-
schweigend neben einander, dann aber unterbrach letztere
das Stillschweigen und sagte:
„Wann gedenkst Du denn zu heiraten, Gligorije?"
„Hm! Weißt Du denn nicht, wann die armen
Leute heiraten?"
„Wann?"
„Wann der Wein billig ist."
„Die Weinberge versprechen eine reiche Lese, also,
vielleicht schon in diesem Herbst?"
„Möglich."
„Also noch nichts Bestimmtes?"
„Nein, nein!"
Sie gingen wieder stillschweigend neben einander.
Justina musterte, während sie neben ihm schritt, seine
Kleider. Gligorije hatte seinen ärmellosen Pelz, von
welchem sich der Serbe selbst im Hochsommer nur
ungern trennt, über die rechte Schulter geworfen. Er-
halte ein Sonntagshemd an, was dem Mädchen ausfiel.
„Wer hat Dir denn dieses Hemd gemacht, Gli-
gorije?" unterbrach Justina das Schweigen.
„Die Mutter, wer sonst?"
„Wie es schön gemacht ist!"
„Hm!"
„Laß mich die Stickerei auf der Brust anschauen!"
sagte das Mädchen mit zitternder Stimme, ergriff dabei
feine Hand und trat vor ihn, um ihn zum Stehen-
bleiben zu veranlassen. Sie betrachtete die Arbeit,
aber nur zum Scheine. Ihre Augen wendeten sich
immer wieder von der Stickerei ab, um sich, wenn
auch nur einen Augenblick, in die seinigcn zu ver-
senken.
„Ich werde Dir auch ein solches Hemd machen,"
sagte Justina nach einer Weile.
„Ist nicht nötig, ich habe deren genug zu Hause,"
erwiderte Gligorije trocken.
„Aber von mir hast Du noch keines."
„Warum sollte ich von Dir ein Hemd haben? Du
bist doch nicht meine Schwester!"
„Aber Du bist mein Bruder!"
„Seit waun denn?"
„Nicht Bruder, aber mehr als Bruder. Gligorije
ich — ich — liebe Dich!" brachte Justina mühsam
hervor und legte ihr Haupt aus die Brust des
Jünglings.
Gligorije wurde es dabei unheimlich zu Mute. Das
Benehmen und die Liebeserklärung Justinens ver-
wirrte ihn, jedoch nur wenige Augenblicke.
„Die Stesansche Stana hat mir davon erzählt,
aber ich glaubte es ihr nicht," erwiderte Gligorije und
— trat einen Schritt zurück.
Wieder schritten die beiden stillschweigend neben
einander. Das Dorf lag kaum hundert Schritte ent-
fernt von ihnen.
„Gligorije!"
„Was willst Du, Justina?"
„Ich habe ein Paar fehr schön gestickte Tscharape*)
zu Hause; willst Du sie?"
„Ich habe mehr als ein halbes Dutzend in meiner
Trnhe," meinte der Gefragte. „Dann müßte auch ich
Dir etwas schenken, und ich habe nichts, das Dir
Freude machen könnte."
„Gib mir die Nelke, die Du auf dem Hute hast,
dann sind wir quitt. Ich werde Dir dafür die
Tscharape geben."
„Die Nelke gebe ich Dir gern umsonst."
„Gligorije!"
„Ich höre."

Wollsvcken, welche bei den Orientalen mehr oder minder schön
gestickt sind. Mitunter findet man darunter Kunststickerei von seltener
Schönheit. Die Tscharapa bildet die eigentliche Beschnhung des Orien-
talen, über welcher die Sandalen befestigt sind.

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„Hast Du mich denn gar nicht lieb?"
„Warum nicht? Du hast mir doch nie etwas
Schlechtes gethan!"
„Du verstehst mich nicht, oder willst mich nicht
verstehen."
„Wieso verstehe ich Dich nicht?"
„Ich meine, ob Du mich nicht heiraten möchtest?"
„Heiraten? Ich Dich? Treibe nicht Spott mit
mir, Justina! Das ist eine Sünde!"
„Es ist nicht Spott, sondern mein vollster Ernst,"
erwiderte das Mädchen und ergriff Gligorijes Rechte.
„Aber das ist ja nicht möglich!" rief er mit auf-
geregter Stimme. „Meiue Ärmut würde sich mit
Deinem Reichtum gewiß nicht vertragen."
„Armut! Du bist nicht arm, Gligorije! Wer, wie
Du, ein schönes Stück Wiesen und Felder, ein Haus
samt Nebengebäuden, ferner vier Rinder und zwei
Pferde sein eigen nennt, ist nicht arm. Zudem bin
ja, wie Du sagst, ich reich, und was mein ist, wird
auch Dein sein. Also
„Es kann nicht sein, Justina! Es kann nicht sein!"
„Warum nicht?"
„Weil Dein Vater hiezu nie die Einwilligung
geben würde."
„Dafür laß Du mich sorgen, Gligorije."
„Du wirst Dich vergebens bemühen."
Gligorije und Justina waren bei dem ersten Hause
angekommen und trennten sich. Er bog nach rechts
ab, wahrend sie nach links einlenkte.
„Es kann nicht sein, es kann nicht sein," murmelte
Gligorije unterwegs und kraute sich hinter den Ohren.
II.
Zigeuner! Wer kennt sie nicht, diese braunen Ge-
sellen ohne Heimat und ohne Tradition! Die sort-
fchreitende Kultur des Westens und die mit derselben
zur Aufrechthaltung der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung Hand in Hand gehenden Administrativvor-
schristen erschweren den unstät Herumirrenden Natur-
menschen den Aufenthalt in den Kulturstaaten und
drängen dieselben immer weiter gegen Osten, ihre
wahrscheinliche Wiege, zurück.
Der Orient kennt zweierlei Zigeuner. Die Mu-
hamegijas und die Kara-Vlasi *). Erstere bekennen sich
zum Islam, letztere aber sind, wie schon das Wort
selbst besagt, Christen. Die Muhamegijas haben durch-
wegs feste Wohnsitze und wohnen in den Städten, von
den Bewohnern anderer Konfessionen getrennt, in eigenen
Mahalas oder an der Peripherie der Städte. Ihre
Hauptbeschäftigung ist das Fuhrwerk. Die Zigeunerin-
nen unterscheiden sich von den Bula**) dadurch, daß sie
wohl Kleider nach türkischem Schnitt, aber keinen Jas-
mak und Feredje***) tragen. Die Mädchen und jüngeren
Frauen verdienen sich mit Musik, Tanz und Gesang
den Lebensunterhalt. Ihre Musikinstrumente bestehen
aus kleinen Trommeln, Tschinellen und Schellern Sie
sind Konzertistinnen und Ballerinen in einer Person.
Gegen Abend, sobald sich die Kaffee- und Wirtshäuser
zu beleben beginnen, erscheinen diese Wesen, unter
welchen man mitunter Erscheinungen von berückender
Schönheit findet, in ihren verlockenden Kostümen auf
dem Felde ihrer Thätigkeit, erheben ein ohrenbetäuben-
des Geschrei in aller: möglichen Disaccorden, — der
Orientale nennt dieses disharmonische Konglomerat
vor: Lauten Gesang — tanze:: dazu und begleiten
Tanz und „Gesang" mit ihrer Höllenmusik.
Die Kara-Vlasi dagegen halten sich im Gegensätze
zu der: Muhamegijas beinahe ausschließlich in Dörfern
oder in der Nähe derselben aus. Sie haben nur in
den seltensten Fällen stehende Wohnsitze; die meisten
wohnen das ganze Jahr hindurch in den Zelter:.
Die Männer sind Musikanten, Schmiede, Rvßhändler,
Verfertiger von Holzgeschirr und so weiter, die Weiber
dagegen beschäftigen sich mit Kartenaufschlagen, Zu-
bereitung verschiedener „unfehlbarer" Heilmittel und
Liebestränklein, kaufen oder stehlen Geflügel, welches
sie gegen „Altes" umtauschen, handeln mitunter auch,
besonders die jüngeren, mit ihrer „Unschuld", kurz, sie
greifen zu allem, was ihnen einen Gewinn oder Nutzer:
bringen kann. Die Zigeunerkinder bleiben in: erster:
Dezennium ihres Lebens meist unbekleidet.
Serbien war noch unter der Negierung des Alexan-
der Kara-Gjeorgjewitsch in sieben Zigeunerkreise ein-
geteilt. An der Spitze der Zigeunerregierung stand
der Vajda, welcher in Jagodina residirte. Er war
von Zigeunerabknnst, stand im Range eines Polizei-
kommissärs und hatte einen Sekretär zur Seite. Dem-
selben waren die sieben Kreisinspektoren, ebenfalls
Zigeuner, untergeordnet. Die Ausgabe des Vajda
bestand in der Eintreibung der Steuern von seiner:
Starnmesgenossen und in der Schlichtung der Streitig-
keiten von geringerer Wichtigkeit. Auch hatte er dafür
zu sorgen, daß sich an einem Orte oder in einem Kreise
nicht zu viele Banden auf einmal ansarnrnelten.

*) Schwarze Christen.
Bula oder Hanuma --- Mohammedanerin.
***) Schleier und Uebcrmantel der Mohammedanerinnen.
 
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