20
Sigm. Freud
Der
Totemismus.
inzestuöser Geschlechtsbeziehungen zum Ziel gesetzt haben. Ja ihre
gesamte soziale Organisation scheint dieser Absicht zu dienen oder
mit ihrer Erreichung in Beziehung gebracht worden zu sein.
An Stelle aller fehlenden religiösen und sozialen Institutionen
findet sich bei den Australiern das System des Totemismus.
Die australischen Stämme zerfallen in kleinere Sippen oder Clans,
von denen sich jeder nach seinem Totem benennt. Was ist nun
der Totem? In der Regel ein Tier, ein eßbares, harmloses oder
gefährliches, gefürchtetes, seltener eine Pflanze oder eine Naturkraft
<Regen, Wasser), welches in einem besonderen Verhältnis zu der
ganzen Sippe steht. Der Totem ist erstens der Stammvater der Sippe,
dann aber auch ihr Schutzgeist und Helfer, der ihnen Orakel sendet,
und wenn er sonst gefährlich ist, seine Kinder kennt und verschont.
Die Totemgenossen stehen dafür unter der heiligen, sich selbstwirkend
strafenden Verpflichtung, ihren Totem nicht zu töten (vernichten) und
sich seines Fleisches (oder des Genusses, den er sonst bietet) zu
enthalten. Der Totemcharakter haftet nicht an einem Einzeltier
oder Einzelwesen, sondern an allen Individuen der Gattung. Von
Zeit zu Zeit werden Feste gefeiert, an denen die Totemgenossen
in zeremoniösen Tänzen die Bewegungen und Eigenheiten ihres
Totem darstellen oder nachahmen.
Der Totem ist entweder in mütterlicher oder in väterlicher Linie
erblich,- die erstere Art ist möglicherweise überall die ursprüngliche
und erst später durch die letztere abgelöst worden. Die Zugehörig-
keit zum Totem ist die Grundlage aller sozialen Verpflichtungen des
Australiers, setzt sich einerseits über die Stammesangehörigkeit
hinaus, und drängt anderseits die Blutsverwandtschaft zurück*.
An Boden und Örtlichkeit ist der Totem nicht gebunden,- die
Totemgenossen wohnen von einander getrennt und mit den
Anhängern anderer Totem friedlich beisammen**.
* F r a z e r, Totemism and Exogamy, Bd. I, p. 53. The totem bond is
stronger than the bond of blood or famiiy in the modern sense.
*® Dieser knappste Extrakt des totemistischen Systems kann nicht ohne
Erläuterungen und Einschränkungen bleiben : Der Name Totem ist in der Form
T o t a m 1791 durch den Engländer J. L o n g von den Rothäuten Nordamerikas
übernommen worden'. Der Gegenstand selbst bat allmählich in der Wissenschaft
großes Interesse gefunden und eine reichhaltige Literatur hervorgerufen, aus
welcher ich als Hauptwerke das vierbändige Buch von J. G. F r a z e r, »Totemism
and Exogamy, 1910« und die Bücher und Schriften von Andrew Lang (»The
secret of the Totem, 1905«) hervorhebe. Das Verdienst, die Bedeutung des
Totemismus für die Urgeschichte der Menschheit erkannt zu haben, gebührt dem
Schotten J. Ferguson Mc Len n an (1869 — 70). Totemistische Institutionen
wurden oder werden heute noch außer bei den Australiern hei den Indianern
Nordamerikas beobachtet, ferner bei den Völkern der ozeanischen Inselwelt, in
Ostindien und in einem großen Teil von Afrika. Manche sonst schwer zu
deutende Spuren und Überbleibsel lassen aber erschließen, daß der Totemismus
einst auch bei den arischen und semitischen Urvölkern Europas bestanden bat, so
daß viele Forscher geneigt sind, eine notwendige und überall durchschrittene Phase
der menschlichen Entwicklung in ihm zu erkennen.
Wie kamen die vorzeitlichen Menschen nur dazu, sich einen Totem beizu-
Sigm. Freud
Der
Totemismus.
inzestuöser Geschlechtsbeziehungen zum Ziel gesetzt haben. Ja ihre
gesamte soziale Organisation scheint dieser Absicht zu dienen oder
mit ihrer Erreichung in Beziehung gebracht worden zu sein.
An Stelle aller fehlenden religiösen und sozialen Institutionen
findet sich bei den Australiern das System des Totemismus.
Die australischen Stämme zerfallen in kleinere Sippen oder Clans,
von denen sich jeder nach seinem Totem benennt. Was ist nun
der Totem? In der Regel ein Tier, ein eßbares, harmloses oder
gefährliches, gefürchtetes, seltener eine Pflanze oder eine Naturkraft
<Regen, Wasser), welches in einem besonderen Verhältnis zu der
ganzen Sippe steht. Der Totem ist erstens der Stammvater der Sippe,
dann aber auch ihr Schutzgeist und Helfer, der ihnen Orakel sendet,
und wenn er sonst gefährlich ist, seine Kinder kennt und verschont.
Die Totemgenossen stehen dafür unter der heiligen, sich selbstwirkend
strafenden Verpflichtung, ihren Totem nicht zu töten (vernichten) und
sich seines Fleisches (oder des Genusses, den er sonst bietet) zu
enthalten. Der Totemcharakter haftet nicht an einem Einzeltier
oder Einzelwesen, sondern an allen Individuen der Gattung. Von
Zeit zu Zeit werden Feste gefeiert, an denen die Totemgenossen
in zeremoniösen Tänzen die Bewegungen und Eigenheiten ihres
Totem darstellen oder nachahmen.
Der Totem ist entweder in mütterlicher oder in väterlicher Linie
erblich,- die erstere Art ist möglicherweise überall die ursprüngliche
und erst später durch die letztere abgelöst worden. Die Zugehörig-
keit zum Totem ist die Grundlage aller sozialen Verpflichtungen des
Australiers, setzt sich einerseits über die Stammesangehörigkeit
hinaus, und drängt anderseits die Blutsverwandtschaft zurück*.
An Boden und Örtlichkeit ist der Totem nicht gebunden,- die
Totemgenossen wohnen von einander getrennt und mit den
Anhängern anderer Totem friedlich beisammen**.
* F r a z e r, Totemism and Exogamy, Bd. I, p. 53. The totem bond is
stronger than the bond of blood or famiiy in the modern sense.
*® Dieser knappste Extrakt des totemistischen Systems kann nicht ohne
Erläuterungen und Einschränkungen bleiben : Der Name Totem ist in der Form
T o t a m 1791 durch den Engländer J. L o n g von den Rothäuten Nordamerikas
übernommen worden'. Der Gegenstand selbst bat allmählich in der Wissenschaft
großes Interesse gefunden und eine reichhaltige Literatur hervorgerufen, aus
welcher ich als Hauptwerke das vierbändige Buch von J. G. F r a z e r, »Totemism
and Exogamy, 1910« und die Bücher und Schriften von Andrew Lang (»The
secret of the Totem, 1905«) hervorhebe. Das Verdienst, die Bedeutung des
Totemismus für die Urgeschichte der Menschheit erkannt zu haben, gebührt dem
Schotten J. Ferguson Mc Len n an (1869 — 70). Totemistische Institutionen
wurden oder werden heute noch außer bei den Australiern hei den Indianern
Nordamerikas beobachtet, ferner bei den Völkern der ozeanischen Inselwelt, in
Ostindien und in einem großen Teil von Afrika. Manche sonst schwer zu
deutende Spuren und Überbleibsel lassen aber erschließen, daß der Totemismus
einst auch bei den arischen und semitischen Urvölkern Europas bestanden bat, so
daß viele Forscher geneigt sind, eine notwendige und überall durchschrittene Phase
der menschlichen Entwicklung in ihm zu erkennen.
Wie kamen die vorzeitlichen Menschen nur dazu, sich einen Totem beizu-