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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 11.1900

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Graevèll, A.: Die Grundlagen der künftigen Entwickelung des Stils in der dekorativen Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.6712#0150

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Seite 11 o.

Illustr. kunstgewerbl. Zeitschrift für Innen-Dekoration.

Juli-Heft.

J. Urban. Thüre im Raum dtr Wiener Künstler-Genossenschaft.

Die Grundlagen der künftigen Entwicklung
des Stils in der dekorativen Kunst.

Von A. Gräv£ll (Gommern bei Mügeln).

»Die Geburtsstätte eines neuen Stils liegt in der Dekora-
tion« , sagt lieh. Wölfflin in seinem Buche »Renaissance
und Barock«. Demselben Gedanken hatte 30 Jahre früher
schon Semper Ausdruck gegeben, als er in einem 1854 in
London gehaltenen Vortrage sagte: »Umwälzungen in den
Architektur-Stilen waren immer vorbereitet durch Neuerungen,
welche vorher in der Art der Ausübung des Kunsthandwerks
eingeführt worden waren«. In neuester Zeit hat nun R.Streiter
in seinen »Architektonischen Zeitfragen« diese Ansicht wieder-
holt, wenn er schreibt: »Das Formgefühl, das in die Baukunst
der Zukunft eine einheitliche Grundstimmung hineinzubringen
im Stande sein soll, wird bei der Formgebung des Einzelnen
und der Dekoration einsetzen müssen. Seine vorherige Ent-
wickelung auf den Gebieten der sogenannten »angewandten
Kunst«, des Kunstgewerbes, der Kunst-Industrie, lassen
unsere modernen Verhältnisse besonders glaubhaft erscheinen.«

In diesen Worten liegt sehr viel Wahres und ein deut-
licher Fingerzeig dafür, wo unsere Künstler einzusetzen haben,
wenn sie einen neuen Kunst-Stil zu Wege bringen wollen.
Es mag im ersten Augenblick paradox klingen, dass — wie
wir aus jenen Worten heraushören — die Wohnungen und
die Häuser sich nach den Möbeln richten sollen und nicht
umgedreht die Möbel nach den Häusern. Schreibt doch Paul
Schumann im Vorwort zum Katalog der Dresdener Aus-
stellung für Haus und Herd: »Die Mieth-Wohnungen werden
immer theurer und deshalb die Wohnräume immer kleiner.
Dementsprechend müssen auch unsere Möbel kleiner aus-
fallen.« Das scheint jene ersten Sätze zu widerlegen. Auch
noch ein anderes Moment Hesse sich dafür ins Feld führen.

Die »gerade Linie« und der »rechte Winkel« sind Prinzipien
der modernen Architektur; der Rechteck-Karakter desStrassen-
netzes aller neueren Städte und Stadttheile überträgt sich von
selbst auf die Häuser- und Zimmerformen, die sämmtlich mehr
oder weniger würfelartige Gestalt besitzen. Dementsprechend
gibt es heutzutage kaum noch ein Möbelstück, welches in
seinem Grundrisse nicht auf das Rechteck zurückgeführt
werden könnte und in seiner Gesammterscheinung an eine
Kiste oder Schachtel erinnerte. Der Gesammt-Eindruck eines
modernen Zimmers entspricht ganz dem Typus der Bauweise,
für die Semper die Bezeichnung »Kommoden - Stil« erfand.
Das scheint also ebenfalls die Annahme zu bestätigen, dass
die Möbel sich nach den Häusern und Wohnungen richten
und nicht umgekehrt.

Und dennoch ist letzteres der Fall. Man darf dabei nur
nicht einzig unsere modernen Verhältnisse ins Auge fassen,
die ja eigentlich einen Zustand absoluter Stillosigkeit reprä-
sentiren. »Seit Rokoko gibt es keinen Stil mehr im Kunst-
schaffen der europäischen Kulturvölker« sagt Sireiter. Das
ist zweifellos richtig. Ja, wir waren soweit gekommen, dass
wir uns überhaupt erst auf uns selbst besinnen und feststellen
mussten, was denn eigentlich »Stil« sei*). Es gab nicht nur
keinen Stil, sondern es gab überhaupt keine »Kunst«, d.h.
ein selbständiges Schaffen aus den Tiefen der Seele, ein
Gebären künstlerischer Gedanken und Vorstellungen aus dem
Schoosse göttlicher Begabung. Das ist kein Vorwurf für
die hochtalentirten »Künstler« jener Zeit, die nicht anders
konnten, als ihren Schöpfungen den Karakter ihrer Tage
aufzuprägen. Wohl ging auch durch jene Zeit ein »künstlerisches
Sehnen«, ein Hoffen auf den Messias der Kunst; aber es
war nicht stark genug, um impulsiv zu wirken und aus dem
Kunstwort die JZunstthat hervorgehen zu lassen. Die Kunst
war Wissenschaft geworden, man studirte sie und lernte bis
aufs i-Tüpfelchen ihre Regeln erkennen. Aber alle Kunst-
wissenschaft der Welt vermag keine Künstler zu erwecken.
Niemand hat jene Sehnsucht klarer ausgesprochen als Wieg-
mann, als er von dem »zeitgemässen, nationalen Stil« schrieb.
Aber gefunden wurde dieser Stil noch nicht, obwohl wir
seitdem einer ganzen Reihe von Schönheits-Idealen gehuldigt
haben. Alle Schöpfungen jener Zeit sind nur Inkrustationen
des künstlerischen Verlangens nach dem »zeitgemässen, natio-
nalen Stil«. Die Wiedergeburt des Deutschen Reiches, die
unser Volk zum Bewusstsein seiner Kulturstellung und damit
zur Erkenntniss seiner nationalen Aufgabe brachte, Hess jenes
Stil-Verlangen eruptiv hervorbrechen und da es nichts vorfand,
woran die künstlerischen Ideen des nationalen Enthusiasmus
sich emporzuranken vermochten, so that man das Klügste,
was man thun konnte: man betrieb die Kunst wissenschaft-
lich, man studirte sie, man kramte alle historischen Stile aus
und versuchte sich in ihnen auszudrücken, und das Volk
nannte das, was so geschaffen wurde »stilvoU«: es war »voU«
alles dessen, was man wissenschaftlich mit diesem oder jenem
»Stil« bezeichnet. So kamen wir zu den »Stil-Moden«, die
sich während der letzten 30 Jahren in bunter Abwechse-
lung gefolgt sind: von der Gothik bis zum »Biedermaier«.

Aber alle diese »Stil-Moden« sind weit davon entfernt,
einen wirklichen Kunst-Stil zu repräsentiren. Sie sind der
Ausdruck einer Afterkunst, die die äusserliche Erscheinung
für das »Wesen« der Kunst nimmt, und die darum ebenso
variabel ist, wie die Flucht der Erscheinungen selbst. Wie
wäre es sonst möglich, innerhalb der kurzen Zeit von 30 Jahren
die verschiedensten »Stile« sich entwickeln, blühen und ver-
gehen zu sehen, wo ehedem ein einziger dieser Stile Jahr-
hunderte brauchte, um seinen Weg über die Weltbühne zu

*) Siehe Gottfr. Semper, »Der Stil«.
 
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