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Illustrirte kunstgewerbliche Zeitschrift für Innendekoration — 9.1898

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Bredt, Ernst Wilhelm: Mehr Wahrheit und Persönlichkeit in Jedermanns Heim, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7396#0014

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Seite. 2.

Illustr. kunstgewerbl. Zeitschrift für Innen-Dekoration.

Januar-Heft.

Abbildung Nummer 748. Kopfleiste »Scabiosa« von Architekt H. Kirchmayr, Klausen (Süd-Tirol).

Tapezierer für manche Anordnung verantwortlich zu machen
ist. — Wie nun das Wohnungsinnere des Einzelnen bei
dessen Karakteristik nicht unbeachtet bleiben darf, so ist
auch die Feststellung des Bildes von Werth, den die
Wohnungen eines Volkes durchschnittlich gewähren, wenn
man sich über das Wesen des Volkes klar werden will.
Unerlässlich ist diese Beurtheilung aber geradezu zur
Urtheilsfällung über die nationale Kunst und das nationale
Kunstgewerbe. Denn die Jahres-Ausstellungen vermögen
uns wohl ein untrügerisches Bild der zeitweiligen künst-
lerischen Produktion zu geben, der Geschmack aber und
die Nachfrage im ganzen Volke nach schönen Gegenständen
kann untrügerisch nur im Hause des Einzelnen erkannt
werden. — Aber wird nicht die Gewinnung eines »Durch-
schnittsbildes« des heutigen Hauses und des Kunstgewerbes
in ihm schon deshalb schwer sein, weil der Gegensatz von
Reich und Arm so gross ist? Fasst man den materiellen
Werth der einzelnen Gegenstände ins Auge, allerdings.
Hier soll es sich aber nur um Wiedergabe des Eindrucks
handeln, den das wesentliche Bild des modernen deutschen
Heimes auf den Unbefangenen macht. Die einzelnen
Leistungen sollen hier nicht etwa beurtheilt werden; das
ist Sache kritischer Künstler und Kunstgewerbler.

Es ist ja nur selbstverständlich, dass Zahl und mate-
rieller Werth der Nutz- und Ziergegenstände im Hause
des Reichen grösser sind als in dem des bescheidenen
Bürgers. Dies trägt jedoch zur Bestimmung des Karakters,
der Wesenseigenthümlichkeit unseres Kunstgewerbes eben-
sowenig bei, wie Reichtum oder Armuth bei Verurtheilung
eines Verbrechers. Und doch ist zu bedenken, dass der
Dieb, der sich in Nothlage befand, milder beurtheilt wird,
als der in auskömmlichen Vermögensverhältnissen Lebende.
Mit Recht verlangen wir vom Sohne eines Wohlhabenden
einen viel höheren Grad von Bildung als vom Sohne eines
Tagelöhners — sollten wir nicht also auch erwarten, dass
zwischen dem Heime des Wohlhabenden und dem des
Unbemittelten nicht nur ein materieller, sondern ganz
gewiss ein wesentlicher Unterschied zu Gunsten des Ersteren
zu machen sei?

Man sollte allerdings! Aber man kann ihn heutzutage
ganz gewiss nicht machen. Denn thatsächlich haben die
Wohnungseinrichtungen beider Schichten der Bevölkerung
im Wesentlichen nicht nur den Mangel an Individualität
gemein, sondern sie streiten sich auch meist um den Preis
für Sinnlosigkeit und täuschenden Schein.

Der kleine Mann möchte, dass seine »gute Stube«
dem »Salon«*) des Commerzienraths gliche, den dieser
selbst schon so einrichten lässt, dass er zunächst die Augen
des kleineren Mannes frappirt. Hier also ein Schielen nach

*) Vergl. hier eingehend: Riehl, Die Familie, II. Buch.

unten und dort ein Schielen nach oben. Bei beiden ein Todt-
schweigen eigenen Empfindens zum Schaden eigenen Be-
hagens. »Müller's und Schulze's haben sich so eingerichtet,
da können wir es doch nicht grad anders machen. Was
sollen denn sonst die Leute dazu sagen?« Also lieber das
eigene Heim nach dem Urtheile fremder Leute einrichten.
Lieber den Schreibtisch dort hinstellen, wo man nur bei
künstlichem Licht an ihm schreiben kann, Heber den Esstisch
so hinstellen und ihn so »dekoriren«, dass man kaum dazu
kann und zum Decken desselben erst möglichst viel von ihm
wegzustellen und abzudecken hat, lieber in einem möglichst
ungesund gelegenen und dunklen Schlafzimmer den nahezu
dritten Theil seines Lebens verbringen, lieber die Bilder von
Verwandten oder auch Landschaften so hoch aufhängen, dass
man sie nicht deutlich erkennen kann — als es anders machen
als andere Leute, die es wieder anderen nachmachen. Man
sollte meinen, die Individualität sollte sich, wenn überhaupt
vorhanden, zunächst in der eigenen Häuslichkeit äussern, wo
doch eigene Bequemlichkeit und eigene Behaglichkeit das
»daheim« ausmachen.*)

Wenn Schopenhauer's Wort: »Je mehr Geist, desto
bestimmtere Individualität« richtig ist, dann dürfte es aller-
dings mit dem geistigen Besitz bei den Deutschen nicht weit
her sein, nicht einmal bei denen, die doch durch materiellen
Besitz leichter imstande sind, sich auch geistigen zu ver-
schaffen. — Wer wird nun schliesslich das kleine Schuster-
pärchen tadeln, wenn es in Ermangelung kostbarer Kunst-
gegenstände einige bunte japanische Fächer kreuz und quer
ohne Obacht auf I inien und Farbe an die Wand heftet, wenn
es eine Unzahl von Familien-Photographien und ein paar
Oeldruckbilder an die Wände der »guten Stube« hängt, wenn
solch ein ungebildetes Paar die kleinen Fenster mit Diaphanien
verklebend »schmückt« und auf ihren Schrank vielleicht ein
paar goldbronzirte oder buntbemalte Figuren aufstellt, wie
sie die Italiener für einige Pfennige oder Groschen in den
Strassen verkaufen? Wer wird da grosses Geschrei erheben,
wenn es auch dort hässlich genannt werden muss? Eine
hässliche oder unschöne dekorative Anordnung verräth stets
einen geistigen Mangel, einen Mangel an Verständniss für
Farbe und Form. Dieses kann man bei dem Ungebildeten
nicht verlangen, man wird ihn selbst gern verzeihen, wenn
ein schönes Gemüth ihn nur unterdrückt hat. Was soll man
aber sagen, wenn ein solcher geistiger Mangel beinahe durch-
weg auch bei Leuten konstatirt werden muss von klassischer
Bildung? Sollte man nicht meinen, dass schon die Lektüre
einiger Hauptwerke der alten schönheitserfüllten Hellenen
davon abhalten müsste, derartigen rohen Plunder in buntestem
Durcheinander in die Häuslichkeit aufzunehmen, wenn solche

*) Vergl. W. H. v. Riehls treffliche Worte über das Schwinden der Idee
des Familienhauses in seinem Werke: Die Familie, II. Buch, 3. Kapitel.
 
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