Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Illustrirte kunstgewerbliche Zeitschrift für Innendekoration — 9.1898

DOI Artikel:
Bredt, Ernst Wilhelm: Mehr Wahrheit und Persönlichkeit in Jedermanns Heim, [7]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7396#0077

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Seite 58.

Illustr. kunstgewerbl. Zeitschrift für Innen-Dekoration.

April-Heft.

besonderer Schönheit und in Hotels von besonders hoher
Lage — und Preislage treibt, weil Müllers [oder Schulzens
im vergangenen Sommer auch dort gewesen sind und so
reizende Bekannte getroffen haben. So wird denn häufig
der lauteste und theuerste Ort zur Erholung aufgesucht, wenn

auch in der Nähe der
Heimat ein viel idyl-
lischeres Plätzchen zu ech-
ter Ruhe einläd, dessen
Preise zudem dem Geld-
beutel des Familienvaters
viel entsprechendere wä-
ren. — Einmal die Bewe-
gung im Freien dazu zu
benutzen, in entlegenerer
Gegend zu beobachten,
wie die Natur aussieht, die
man so häufig auf den
Gemälden sieht, wie das
Volk der Berge oder das
der Ebene denkt und fühlt, und wie auch die künstlerischen
Erzeugnisse einer Gegend aus dem Wesen ihres Volkes heraus
entstehen, das oder ähnliches zu beobachten, liegt den meisten

fern. Wozu auch? Die
Kritiken sagen ihnen ja,
welches Bild Naturwahr-
heit besitzt und welches
nicht. Die Volkslieder
können sie ja auch im
Salon bequem von Damen
und Herren der Gesell-
schaft singen hören und
über das Wesen der Kunst-
werke belehren sie Bücher
und Lehrer der Aesthetik.

Sollte etwa hierfür ein
Entschuldigungsgrund in
der Thatsache gefunden
werden, dass die Liebe zur Natur vor noch gar nicht so
langer Zeit überhaupt erst erwacht ist, dass erst seit etwa
der Mitte des vorigen Jahrhunderts der lebhaftere Sinn für

die Schönheiten der Natur
sich regte und es besonders
das Verdienst Rousseau's
gewesen ist, die Liebe zur
Natur gefördert zu haben ?
Nein, denn wenn wir auch
glücklicherweise einen
Landaufenthalt im Jahr für
nothwendig halten, so wird
doch auch heute noch das
von Menschenhand schon
Umgestaltete und Kulti-
virte, das komfortable
Weltbad dem idyllischen,
von der Hauptstrasse nicht
berührten Waldort von der
Mehrzahl vorgezogen. Ja
wir stehen dieser Zeit in
gewisser Weise nach, denn
Rousseau*) wusste immerhin den Sinn der Vornehmen und
Reichen wieder von der Stadt auf das Land, von den prunk-
vollen Palästen auf die einfachen Villen, von den Parken und
Weihern auf die Triften und Seen, von dem zerrüttenden

*) Mahrenholtz, J. J. Rousseau.

Abbildungen Nr. 805—807. Tischchen.
Von H. Fried«l, München.

Leben der Grossstadt auf die erfrischende Stille idyllischer
Einsamkeit zu wenden! Es ist also wohl zeitgemäss, trotz
unserer ausgedehnten Sommerfrischen diese Rousseau'schen
Wünsche, wie sie Mahrenholtz in kurzen Worten wiedergibt,
zu wiederholen. Denn gerade gesunden Natursinn verräth es
doch nicht, wenn sich so
viele an von Natur wunder-
schön gelegenen, aber
durch »Verschönerungs-
vereine« so kindisch ver-
unstalteten Orten so gerne
aufhalten; wenn die grosse
Menge, die das Geld dazu
hat, grossartige Hotels auf
kahlem Bergesgipfel lieber
zum Sommeraufenthalte
wählt, als ein sauberes
Haus auf der Alm, wo es
sich doch mit einigen Mit-
teln recht behaglich ein-
richten lässt, wenn sie selbst am Ufer eines von tiefdunklen
Tannen umrahmten Sees auf englisch gepflegten Rasen Lawn-
tennis spielen muss und des abends der Fahrt auf dem
Bergsee in einfachem
Kahn, wo es sich so recht
gut über die Entstehung
der Nixengestalten nach-
denken Hesse, die Blech-
musik einer fremden Mi-
litärkapelle vorzieht. —
Nein, soviel ist gewiss:
zur Seelen- und damit zur
Kunst - Diätetik hat das
fashionable Sommerreisen
bisher gerade in den Krei-
sen, bei denen man ein
Uebermass von geistiger
Gesundheit statt Krankheit
erwarten sollte, nicht geführt. Und doch, weil zunächst der
bessere, kräftigere Theil des Volkes aus dieser zur hygienischen
Nothwendigkeit gewordenen Sitte Nutzen zu ziehen weiss,
wird sie doch schliess-
lich dem ganzen Volke
besten Nutzen bringen.

Hat nun wenigstens
das Wohnenbleiben auf
dem Lande der in der
nahen Grossstadt beschäf-
tigten Leute bisher die
Individualität des Volkes
gefördert? Dass die Ant-
wort hierauf nur ein ent-
schiedenes »Nein« sein
kann, versteht sich fast
von selbst, weil bisher sich
nur die oberen Zehntau-
send den Luxus eines
Landhauses gestatteten
und von diesen wiederum
die meisten es nur aus

Freude am Vonsichredenmachen thaten. Eine derartige Luxus-
sache kann aber nie für das Volk massgebend oder gar
förderlich sein. Und doch ist es für unsere Zeit gerade zu
erwarten, dass ihr der Zug auf's Land den Weg zu grösserer
Individualität und echter Kunst weise. Aber leider denkt

Abbildungen Nr. 808—810. Tischchen.
Von H. Priedel, München.
 
Annotationen